LINDNER/BERGER-Gespräch: Kontinuität ist gefährlich
Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner und der Unternehmensberater Roland Berger im Gespräch für das „Handelsblatt“ (Mittwoch-Ausgabe). Die Fragen stellte Gabor Steingart:
Frage: Herr Berger, zeitlebens haben Sie Firmen nicht nur beraten, sondern auch gegründet. Bereits als Student besaßen Sie eine Wäscherei …
Berger: ... und einen Schnapsdiscounter.
Frage: Wie kam es dazu?
Berger: Ich habe Betriebswirtschaftslehre studiert und musste meinen Unterhalt verdienen. Das Geschäft lief gut. Zwischen dem schriftlichen und dem mündlichen Examen konnte ich die Wäscherei, die zum Schluss 15 Leute beschäftigte, für stolze 600 000 Mark verkaufen. Das war damals in den 60er-Jahren ein mittleres Vermögen. Von einem Teil des Geldes habe ich gleich neu gegründet: Einen der ersten deutschen Discounter, einen Schnapsdiscounter. Die Leute kamen von überallher nach München gefahren und kauften Kognak und Whiskey kistenweise.
Frage: Sie sind als Schnapshändler gestartet, und dennoch ist etwas aus Ihnen geworden.
Berger: Warum auch nicht? Ich habe Schnaps verkauft, nicht getrunken.
Frage: Herr Lindner, Sie sind – ausweislich der Wahlerfolge in NRW und anderswo – ein erfolgreicher politischer Unternehmer, aber gestartet sind auch Sie als zweifacher Firmengründer. Wie waren Ihre Erfahrungen?
Lindner: Eine Gründung war erfolgreich, die andere lehrreich. Ich bin mit 18 zu Hause ausgezogen und wollte mein eigenes Geld verdienen. Zunächst gründete ich eine Werbeagentur, wir übernahmen unter anderem die Kommunikation für einen Telekommunikationskonzern. Ich habe das sieben Jahre erfolgreich gemacht. Zeitweise war ich auch Teilhaber eines Technologie-Startups. Das ging schief.
Frage: War dieses Scheitern für Sie eine schmerzhafte Erfahrung?
Lindner: Frustrierend war es, ja klar. Doch das gehört dazu. Wer Unternehmer sein will, muss lernen, Frustrationsphasen zu überwinden. Man kann es auch so sehen: Ich bin damals schon optimal vorbereitet worden auf die Zeit als FDP-Vorsitzender.
Frage: Sie wurden jüngst im Landtag von Nordrhein-Westfalen für Ihr frühes Scheitern als Unternehmer verspottet – und haben den Spötter aus den Reihen der SPD energisch in die Schranken verwiesen.
Lindner: Als Unternehmer können Sie es in Deutschland nur falsch machen. Scheitern Sie, verdienen Sie Häme. Haben Sie Erfolg, ernten Sie Neid und geraten ins Visier der sozialdemokratischen Umverteilung. Ohne diese Häme und diesen Neid wären wir nicht nur ein unternehmerfreundlicheres, sondern auch ein lebensfreudigeres Land.
Frage: Herr Berger, ist Deutschland unternehmerfeindlich?
Berger: Unser Hauptproblem ist nicht fehlendes Wissen oder mangelnder Wille. Es fehlt leider häufig an Kapital. Die Deutschen sind keine Investoren. Wir sind zu risikoscheu. Vielleicht sollten wir Investieren mit Steuervorteilen versüßen.
Lindner: Insgesamt ist unsere Kapitalmarktkultur unterentwickelt. Sehr zum Nachteil der Menschen. Der Spartrieb ist in Deutschland größer als der Geschlechtstrieb.
Frage: Das Zitat stammt von Bayerns ehemaligem CSU-Finanzminister Erwin Huber, stimmt's?
Lindner: Ich glaube, ich hab's von Wolfgang Schäuble gehört.
Frage: Also auf jeden Fall geklaut.
Lindner: Nein, nicht geklaut. Das nennt man „dekantieren“. Das ist wie ein guter Wein, der umgegossen wird.
Frage: Einmütigkeit also in der Diagnose, aber wie wollen sie diese Mutlosigkeit der Deutschen beim Investieren politisch beenden?
Lindner: Mentalitätsreformen sind leider besonders schwer. Die kann man politisch nicht verordnen. Schauen Sie sich nur die Umfragewerte für die CDU an. Die sind hoch und zeigen damit deutlich die mangelnde Veränderungsfreude der Deutschen. Denn das Wahlprogramm lässt sich mit zwei Worten zusammenfassen: „Weiter!“ und „So!“
Frage: Sie sagen, das ist nicht nur nostalgisch, sondern auch gefährlich?
Lindner: In einer Welt des Wandels ist nichts gefährlicher als Kontinuität. Wir haben in Deutschland einen Mangel an innovativen Unternehmen. Wir brauchen mehr Unternehmerpersönlichkeiten. Es kann und darf nicht sein, dass jeder Dritte Absolvent in den Öffentlichen Dienst strebt.
Frage: Daher noch einmal die Frage nach der Mentalität: Wie wollen Sie diese Grundeinstellung gegenüber Risiko und Wagemut verändern?
Lindner: Wir führen in Nordrhein-Westfalen jetzt ein Gründerstipendium in Höhe von 1 000 Euro pro Monat ein. Das erhalten angehende Jungunternehmer für ihren Lebensunterhalt. Und auch in Bezug auf die Investitionskultur lässt sich was tun. Es gibt ja schließlich genug Kapital in Deutschland.
Frage: Wo sehen Sie dieses Kapital, das sich für eine neue Gründerzeit mobilisieren ließe.
Lindner: Allein bei Lebensversicherungen liegen zwei Billionen Euro privates Kapitel. Die Anreize sind nur falsch gesetzt. Es ist derzeit in Deutschland leichter, griechische Staatsanleihen zu kaufen, als sich an einem Start-up-Fonds zu beteiligen.
Frage: Das wollen Sie ändern?
Lindner: Ja. Die Anlagebestimmungen für die Kapitalsammelstellen müssen verändert werden. Zudem rate ich dazu, die Scheu gegenüber dem Kapitalmarkt auch bei der privaten Vorsorge zu überwinden. Mein Vorschlag ist, wir sollten bei der Kapitalbesteuerung wieder eine Spekulationsfrist einführen. Wer ein Wertpapier länger als zehn Jahre hält, der sollte den Veräußerungsgewinn wie bei Immobilien auch steuerfrei behalten können. So würden wir Wertpapiere zu einem viel attraktiveren Mittel der persönlichen Altersvorsorge machen. Die Zurückhaltung der Deutschen am Kapitalmarkt ist ohnehin paradox. Denn niemand hat die Deutschen schließlich mehr betrogen als der Staat, der im Nachhinein immer die Vertragsbedingungen bei der gesetzlichen Rente verändert.
Frage: Dennoch sagen viele, die deutsche Wirtschaft sei bereits tief in das digitale Neuland vorgedrungen. Stichwort Industrie 4.0. Andere, dazu gehört die Kanzlerin, beklagen, wir hätten einen Aufholbedarf. Wo sehen Sie unser Land?
Berger: Im Bereich Business to Consumer werden wir den Vorsprung von US-Unternehmen wie Amazon, Apple oder Alibaba aus China nicht mehr aufholen. Die deutsche Wirtschaft ist aber stark im Bereich Business to Business. Die meisten weltweit genutzten Autos und Werkzeugmaschinen kommen aus Deutschland. Jedes dieser Produkte produziert Daten. Diese Datenbasis sollten wir für das Zeitalter der Digitalisierung und damit die neuen Produkte und Dienstleistungen, die es hervorbringen wird, nutzen.
Lindner: Ich teile den Optimismus, aber der darf uns nicht zur Tatenlosigkeit verführen. Die Digitalisierung ist ein Eishockeyspiel. Die deutsche Politik fühlt sich aber im Fußballstadion. Eishockey ist viel härter, schneller, rücksichtsloser als Fußball. Wir haben deshalb schon zwei von drei Dritteln verloren. Erstens, die Hardware. Zweitens, die B-to-C-Plattformen. Und jetzt bleibt noch ein dritter Bereich übrig: die B-to-B-Plattformen und Industrie 4.0. Hier müssen wir verteidigen und erobern. Das aber bedeutet: Wir brauchen Tempo. Die anderen schlafen nicht. Ich sage nur: Tesla und die deutsche Automobilindustrie.
Frage: Was kann der Staat tun, um Tempo und Gangart zu steigern?
Lindner: Er muss sich um die Rahmenbedingungen kümmern. Erstens: Es geht um die Köpfe. Wir brauchen in den Schulen mehr Wirtschaft und Digitalisierung. Schüler müssen als Kulturtechnik coden lernen. Das Digitalste in der Schule darf nicht die Pause sein, in der alle sich mit dem Smartphone beschäftigen.
Frage: Wenn die Schüler, die jetzt in Klasse 6 coden lernen, mit der Schule fertig sind, ist schon wieder viel Zeit vergangen, oder?
Lindner: Das stimmt. Was machen wir noch? In Nordrhein-Westfalen arbeiten wir jetzt daran, dass es eine private Fachhochschule für Coding gibt. Unsere staatlichen Hochschulen sind sehr stark auf die klassische, theoretische Informatik spezialisiert, die wir auch sehr wertschätzen. In den USA aber etwa gibt es Computer Sciences. Diese Ausrichtung ist geländegängig. Solche Absolventen brauchen wir dringend in der Wirtschaft.
Frage: Investitionen in Bildung sind sicher ein Schlüssel, aber nicht der einzige. Was noch braucht Deutschland, um bei der Digitalisierung nicht den Anschluss zu verlieren?
Lindner: Mit Sicherheit ein Einwanderungsgesetz. Haben Sie gesehen, wie schlau und schnell Macron reagierte, als Trump das Pariser Klimaabkommen gekündigt hat? Der französische Staatspräsident nahm in englischer Sprache ein Video auf – und Sie wissen, es muss ernst sein, wenn ein Franzose Englisch spricht –, und in diesem Video sagt er: „Ihr großartigen Energiewissenschaftler, die ihr da in den USA arbeitet, ihr seid da nicht mehr willkommen, kommt zu uns!“ Warum können wir in Deutschland nicht so cool sein?
Frage: In der technologischen Revolution fürchten viele Menschen, ihren Arbeitsplatz zu verlieren. Zu Recht?
Berger: Wie jeder technologische Umbruch bedeutet auch dieser die Entwertung bisheriger und die Hervorbringung neuer Berufe. Wir – also Staat, Unternehmen und Gesellschaft – müssen diesen Prozess moderieren, damit es nicht zum Bruch kommt.
Lindner: Die Digitalisierung ist in meinen Augen kein Risiko, sondern eine Chance. Wer vermisst denn heute den Heizer auf der Dampflok, der im Schweiße seines Angesichts den ganzen Tag die Kohlen in den Kessel geschaufelt hat? Das war ein langweiliger, unproduktiver, körperlich anstrengender, krank machender Job. Und dass der weggefallen ist, das war ein zivilisatorischer Fortschritt, kein Rückschritt.
Frage: Wir lernen also: Damit der Wandel gelingt, braucht es mutige Unternehmer und gut ausgebildete Beschäftigte. Aber eine erstklassige Infrastruktur wäre ebenfalls nötig, die Deutschland als eines der langsamsten Internetländer des Westens derzeit nicht besitzt. Herr Berger, haben wir es mit einem Staatsversagen zu tun?
Berger: Ja, absolut. Die dezentrale Struktur der deutschen Wirtschaft ist ein großer Vorteil. Der ländliche Raum hätte deshalb schon längst mit schnellen Datenleitungen erschlossen werden müssen. Ich bin als Unternehmer natürlich prinzipiell gegen staatliche Eingriffe, aber wenn Eile geboten ist, muss der Staat handeln. Das hat er im Fall der Versorgung Deutschlands mit schnellem Internet nicht genug getan.
Lindner: In den Ballungsräumen brauchen wir nur eines: den guten, alten marktwirtschaftlichen Wettbewerb unterschiedlicher Anbieter. Wenn man natürlich nur der Telekom die Filetstücke gibt und die dort auf ihre Kupferkabel setzt, muss man sich nicht wundern. In den ländlichen Räumen brauchen wir den Staat mit Fördermitteln. Und da mache ich Ihnen jetzt einen Vorschlag: Der Staat veräußert die Aktien, die er von Deutscher Post und Telekom noch hält. Das bringt nach derzeitigem Stand einen mittleren zweistelligen Milliardenbetrag. Dieses Geld wandert dann nicht in die klebrigen Finger der Arbeitsministerin, sondern wird reserviert für einen Masterplan Glasfaserausbau im ländlichen Raum.
Frage: Brauchen wir eine deutsche Industriepolitik?
Lindner: Selbstverständlich brauchen wir die. Denken Sie nur an die Automobilindustrie und das autonome Fahren. Da müssen wir für unsere Automobilindustrie die nötigen Rahmenbedingungen schaffen. Da sollten wir gemeinsam dafür sorgen, dass wir unsere PS auf die Straße bringen.
Frage: Industriepolitik und Liberalismus – ist das nicht ein Widerspruch?
Lindner: Nein, mit Industriepolitik pro Markt habe ich als Liberaler kein Problem. Mit Industriepolitik pro Business sehr wohl. Was ist der Unterschied? Der Staat muss den Rahmen für alle setzen, aber er sollte nicht zugunsten einzelner Technologien oder gar einzelner Unternehmen intervenieren.
Frage: Der neue Liberalismus, den Sie vertreten, ist pragmatischer als der alte. Ist er auch mehrheitsfähig?
Lindner: Nein, der Liberalismus ist in Deutschland kein Mehrheitsprogramm, sondern eine Mutprobe. Wir sind so kühn, zu glauben, dass der einzelne Mensch der beste Experte für sein Leben ist. Wir setzen eher auf Markt und Gesellschaft statt auf staatliche Kommandos.
Frage: Herr Berger, wie finden Sie die neue FDP?
Berger: Es ist gut, dass Schluss ist mit diesem Interessensvertreter-Image. Die FDP von heute hat ein breiteres Programm und kann deshalb mit den beiden großen Parteien konkurrieren und koalieren. Die FDP ist mittlerweile eine gewichtige Partei, die wir in der Regierung gut gebrauchen könnten. Nur mit ihr sind bürgerliche Mehrheiten möglich. Eine ewige Große Koalition kann doch nicht die Zukunft Deutschlands sein.
Frage: Herr Lindner, Sie werden aufgrund Ihrer jüngsten Erfolge bei den Landtagswahlen und Ihrer Jugendlichkeit schon mit dem französischen Präsidenten Macron verglichen. Zu Recht?
Lindner: Macron macht auch mir Mut. 2016 war das Jahr von Brexit und Trump. Wahlen wurden gewonnen mit Radikalität, Angst, Abschottung. 2017 wurden in den Niederlanden und nun auch in Frankreich die Wahlen gewonnen mit dem Mut zur Veränderung, mit dem Bekenntnis zu Weltoffenheit und Europa. Das gibt Grund für Optimismus. Aber der persönliche Vergleich mit Macron ist zu groß geraten. Macron fährt zum G20-Gipfel, ich nach Aachen, wo ich in einer Kirche spreche.