LINDNER-Interview: Wir brauchen eine Agenda 2010 für ganz Europa
Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner gab dem „Euro-Magazin“ (aktuelle-Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellte Lucas Vogel:
Frage: Herr Lindner, stellen Sie sich einen Moment vor, Sie sind Bundeskanzler für einen Tag. Welche Gesetze der Großen Koalition würden Sie sofort zurücknehmen?
Lindner: Ich will lieber nach vorn denken und deshalb neue Gesetze auf den Weg bringen. Das erste wäre ein Bildungsreformgesetz, das es dem Bund erlaubt, diese wichtigste Zukunftsaufgabe mitzufinanzieren und auch klare Standards im Bildungswesen zu setzen. Das zweite wäre ein Digitalisierungsstärkungsgesetz, das den Ausbau des Glasfasernetzes durch den Verkauf von Post- und Telekom-Anteilen beschleunigt und die Modernisierung der Verwaltungen umfasst. Als drittes käme ein Aufhebungsgesetz für den Solidaritätszuschlag.
Frage: Die Staatseinnahmen aus Soli und anderen Steuern steigen rasant. Fast alle Parteien wollen den Mittelstand entlasten. Wie und um wie viel wollen Sie die Steuern senken?
Lindner: Angesichts der zusätzlichen Steuermehreinnahmen sind 30 bis 40 Milliarden Euro Entlastung möglich. Das ist sogar noch bescheiden und wäre ein Gebot der Fairness. Mein Ziel ist eine Entlastung, die alle spüren: Rentner, BAföG-Empfänger, Hartz-IV-Empfänger und die fleißig arbeitenden Menschen in unserem Land. Deshalb planen wir mit einem Bündel an Maßnahmen: Wir wollen die Stromsteuer senken, den Soli abschaffen, die kalte Progression abbauen und die Hinzuverdienstmöglichkeiten für Hartz-IV-Bezieher verbessern. Es muss eine neue Balance zwischen Bürger und Staat geben.
Frage: Neben Steuersenkungen finden sich im Wahlprogramm auch andere klassische Forderungen: erleichterte Abschreibungen, Bürokratieabbau, Erleichterungen für Investoren in Start-ups. Ist die neue FDP bei all der Runderneuerung der vergangenen Jahre doch die gute alte FDP geblieben?
Lindner: Ich würde sagen, wir sind die bessere alte FDP. Wir haben uns erneuert und sind dazu an den Kern unserer Grundüberzeugungen gegangen. Im Ergebnis haben wir die Dosis an Liberalität im Programm erhöht. Wir sind keine Pro-Business-Partei, wie uns immer wieder vorgeworfen wird, wir sind eine Pro-Markt-Partei. Uns geht es um eine gute Marktordnung, in der es faire Wettbewerbsbedingungen gibt. Der Staat muss diese ordnen und dafür sorgen, dass der Wettbewerb funktioniert.
Frage: Die FDP ist also nicht mehr die Hoteliers und Apothekerpartei?
Lindner: Fragen Sie doch mal die Apotheker. Wir sind die einzige Partei, die sich klar gegen ein Verbot des Versandhandels von verschreibungspflichtigen Medikamenten einsetzt. Es gibt nun mal diesen neuen Absatzkanal, der Vorteile für Kunden bringt. Wir haben großen Respekt vor Selbstständigen und dem Mittelstand. Aber wir sind nicht die Partei einer bestimmten Berufsgruppe und waren es nie.
Frage: Unsere Leser interessiert vor allem die Zukunft der Abgeltungsteuer. Viele SPD-Politiker wollen sie abschaffen und Kapitalerträge wieder mit dem persönlichen Einkommensteuersatz besteuern. Auch Finanzminister Schäuble hat darüber bereits laut nachgedacht.
Lindner: Es wäre falsch, die Abgeltungsteuer einfach abzuschaffen. Wenn man die Besteuerung von Kapitaleinkünften neu regeln möchte, dann müsste dies mit einer deutlichen Erhöhung des Sparerfreibetrags einhergehen. Als einzige Partei bringen wir die Forderung in die Debatte ein, dass Verkaufserlöse von Wertpapieren nach einer Spekulationsfrist steuerfrei sein sollen.
Frage: Die meisten Deutschen bezahlen keine Abgeltungsteuer, weil ihre Sparkonten nichts abwerfen. Selbst lange Jahre mit Nullzinsen haben keine Anlegerkultur in Deutschland geweckt. Wie könnte man das ändern?
Lindner: Die Menschen benötigen zunächst einmal mehr finanziellen Spielraum. Auch deshalb sind wir für Entlastung. Aktienbesitz darf auch nicht steuerlich bestraft werden. Und er muss fester Bestandteil der Altersvorsorge werden.
Frage: Was läuft aus Ihrer Sicht bei Riester, Rürup und Co falsch, und wie müsste man die staatlichen Anreize für private Altersvorsorge verbessern?
Lindner: Betriebliche und private Altersvorsorge müssen attraktiver werden. Konkret wollen wir die Möglichkeiten ausweiten, auch in Infrastruktur, Aktien und andere Unternehmensbeteiligungen zu investieren. Und die Vorsorge darf nur teilweise auf die Grundsicherung im Alter angerechnet werden, damit sich Vorsorge immer auszahlt.
Frage: Solange er nicht in Aktien investiert, leidet der deutsche Sparer unter der Niedrigzinspolitik der EZB. Sie fordern ein Ende der Nullzinspolitik. Wie soll das gehen?
Lindner: Herr Draghi ist mit seiner Zinspolitik in die Bresche gesprungen. Er hat Europas Regierungen Zeit für Reformen erkauft – die sind aber größtenteils ausgeblieben und die Schulden gestiegen. Wir brauchen aber einen glaubwürdigen Neuanfang mit marktwirtschaftlicher Reformpolitik wie der Agenda 2010 in ganz Europa. Wenn es diese Umkehr aufseiten der Regierungen gibt, kann Herr Draghi aus seiner Zinspolitik aussteigen.
Frage: Solche Reformen in souveränen Staaten zu erzwingen ist nur bedingt möglich, wie man am Beispiel Griechenland sieht.
Lindner: Sicher. Aber dann muss die Bundesregierung auch die Konsequenzen ziehen, anstatt die Steuerzahler weiter an der Nase herumzuführen. Jetzt wird über die Beteiligung des IWF diskutiert, dabei beteiligt er sich in Wahrheit schon nicht am dritten Hilfsprogramm. Eine ehrliche Lösung für Griechenland wäre der Austritt aus dem Euro und zweckgebundene Hilfe aus Brüssel. Das Land würde in der EU bleiben und könnte sich durch Abwertung der neuen Währung wieder wettbewerbsfähig machen.
Frage: Mit der Wahl Emmanuel Macrons in Frankreich verbinden viele die Hoffnung, dass der Eurozone endlich der Durchbruch bei der Bekämpfung der Krise gelingt. Frankreich macht Reformen und Deutschland lockert die Schuldenregeln — ist das das Rezept zur Rettung des Euro?
Lindner: Ich bin da sehr kritisch. Natürlich habe ich mich über die Wahl Macrons gefreut, weil er ein überzeugter Europäer ist. Aber die Probleme, die wir haben, haben wir nicht, weil zu viele Staaten die Schuldenregeln streng eingehalten haben. Der Schlüssel liegt in Paris selbst. Frankreich braucht eine Politik, die investiert, entlastet und flexibilisiert und damit den Jahrzehnte währenden Reformstau aufbricht. Das ist ein Kraftakt.
Frage: Sie sind skeptisch, dass er gelingt?
Lindner: Es wird nicht bequem werden mit Herrn Macron. Denn seine Vorstellungen laufen auf ein vereinheitlichtes Europa zu. Unsere Auffassung ist eher, dass Europa mehr finanzpolitische Eigenverantwortung fordern sollte, unterschiedliches Tempo bei der Vertiefung erlauben sollte und den guten alten Gedanken der Einheit in Vielfalt reaktivieren müsste.
Frage: Also weniger Europa?
Lindner: Nein, sondern die wesentlichen Fragen nach vorn stellen: den Schutz der EU-Außengrenze, die grenzüberschreitende Kriminalitätsbekämpfung, die Vertiefung des digitalen Binnenmarkts, die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik und den gemeinsamen Energiemarkt. Aber bitte keine Vorschläge wie die europäische Arbeitslosenversicherung, wie sie Herrn Schulz vorschwebt. Deutsche Arbeitnehmer zahlen ihre Beiträge in einen Topf ein, aus dem dann die Folgen der schlechten Wirtschaftspolitik Italiens bezahlt werden — das kann nicht funktionieren.
Frage: Auch in der Flüchtlingspolitik ist die EU weit vom Konsens entfernt. Sie fordern nicht nur bessere Grenzsicherung und konsequentere Abschiebungen, sondern auch ein Einwanderungsgesetz. Warum?
Lindner: Wir brauchen auf jeden Fall mehr qualifizierte Zuwanderung und dafür ein Einwanderungsgesetz mit klaren Regeln und Kriterien. Hier schläft die Bundesregierung, obwohl wir gerade eine große Chance haben. Denn seit der Brexit-Entscheidung und der Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten stehen zwei begehrte Zuwanderungsländer nicht mehr so hoch im Kurs.
Frage: Ein modernes Einwanderungsgesetz könnten Sie wahrscheinlich mit vielen Parteien umsetzen, fast alle sind dafür. Mit welcher würden Sie es am liebsten nach der Bundestagswahl umsetzen?
Lindner: Wir legen uns nicht vorab auf Koalitionen fest. Auf Landesebene regieren wir in Rheinland-Pfalz in einer Ampel mit SPD und Grünen, in Schleswig-Holstein verhandeln wir über eine Jamaika-Koalition mit der CDU und den Grünen und in Nordrhein-Westfalen über eine Regierungsbildung mit der CDU, also Schwarz-Gelb.
Frage: Das klingt sehr nach Beliebigkeit und Machtpolitik.
Lindner: Nein, das ist eigenständig. Wo wir unser Inhalte umsetzen können, wo ein echter Politikwechsel möglich ist, gehen wir Koalitionen ein. Wo wir das nicht können, verzichten wir — so wie in Baden-Württemberg, wo wir die Einladung zur Regierungsbildung abgelehnt haben.
Frage: Und auf Bundesebene?
Lindner: Entscheidend ist, dass wir inhaltliches Profil zeigen können. Klar ist: In der Wirtschafts- und Finanzpolitik haben wir mit der Union immer noch die größte Schnittmenge. Es stimmt die Richtung, wenngleich nicht das Tempo und die Vehemenz. Bei SPD und Grünen hingegen stimmt noch nicht einmal das: mehr Bürokratie, mehr Umverteilung, der maßlose Etatismus, das Misstrauen gegenüber wirtschaftlicher Freiheit — da sehe ich wenig Anschlussfähigkeit.
Frage: Sie halten eine Fortführung der Großen Koalition für sehr wahrscheinlich. Was, wenn es doch für Schwarz-Gelb reichen würde? Unter welchen Voraussetzungen würden Sie eine Koalition eingehen?
Lindner: Die Voraussetzungen sind die gleichen: Es müsste eine liberale Handschrift erkennbar sein. Prinzipienfestigkeit, Glaubwürdigkeit und Berechenbarkeit setzen wir nicht erneut aufs Spiel. Das ist die Lehre aus 2009.
Frage: Konkret: Haben Sie rote Linien definiert und bereits Punkte für einen Koalitionsvertrag im Kopf, die nicht verhandelbar sind?
Lindner: Wir werden vor der Bundestagswahl zehn Projekte definieren, die deutlich machen, was mit der FDP geht und was nicht. Dazu zählen eine Trendwende bei der Steuer- und Abgabenquote, ein Neustart beim Euro, eine gesteuerte Einwanderungspolitik und eine Offensive für Bildung und neue Technologien.
Frage: Vor vier Jahren lag die FDP nach dem Debakel bei der Bundestagswahl völlig am Boden. Käme die Regierungsverantwortung für die FDP jetzt — auch angesichts einer dünnen Personaldecke — nicht zu früh?
Lindner: Das darf man sich nicht aussuchen. Wenn es die Möglichkeit eines Politikwechsels gibt, wäre es unverantwortlich, diese Chance nicht zu nutzen und es sich in der Opposition bequem zu machen. Die FDP ist eine Traditionspartei, in deren Organisation jahrzehntelange Erfahrung und Staatsklugheit gespeichert sind. Und auch die personellen Möglichkeiten sind vorhanden.
Frage: Zum Schluss: Warum sollten unsere Leser am 24. September die FDP wählen?
Lindner: Weil wir an den einzelnen Menschen glauben. Daran, dass er nicht schwach und anleitungsbedürftig oder böse und verführbar ist. Deshalb braucht er den Staat auch nicht als Aufpasser oder Erziehungsberechtigten — sondern als Problemlöser. Diesen Staat wollen wir den Menschen zurückgeben.