LINDNER-Interview: Politik der grenzenlosen Aufnahmebereitschaft korrigieren
Berlin. Der FDP-Bundesvorsitzende CHRISTIAN LINDNER gab der „Rhein-Zeitung“ (Freitag-Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellten CHRISTIAN LINDNER und URSULA SAMARY:
Frage: Milliarden für die Türkei, Sicherung der EU-Außengrenze: Ist die Flüchtlingskrise kurz vor der Lösung?
LINDNER: Der Gipfel war kein Durchbruch, Kanzlerin Merkel ist wieder mit leeren Händen zurückgekommen. Frau Merkel hat über Monate europäische Grenzkontrollen abgelehnt und sich einseitig auf die Türkei als Partner zur Bewältigung der Flüchtlingskrise festgelegt. Sie verantwortet, dass wir uns vom türkischen Präsidenten Erdogan erpressbar gemacht haben. Deutschland ist in Europa isoliert, eine nachhaltige Lösung ist nicht abzusehen, solange sich die Kanzlerin nicht bewegt.
Frage: Ist es kein Gewinn, wenn sich Bürgerkriegsflüchtlinge nicht mehr in die Hände von Schleppern begeben müssen und legal nach Europa kommen können?
LINDNER: Das mag humanitär ein kurzfristiger Gewinn sein, aber es ist ein Fehler, sich allein auf Herrn Erdogan als vermeintlichen Heilsbringer zu verlassen. Wir wollen die Partnerschaft mit der Türkei, aber nicht eine Situation, in der wir voll in die Hände eines autoritären Herrschers geraten. Notwendig ist, dass Deutschland die Politik der grenzenlosen Aufnahmebereitschaft korrigiert. Solange es keine europäische Lösung gibt, müssen wir an der deutschen Grenze Flüchtlinge, die aus sicheren Drittstaaten wie Österreich kommen, zurückweisen. Wir brauchen europäische Initiativen zur Kontrolle der Außengrenzen mit eigener Polizei. Ich bin gegen Abschottung, aber für Ordnung an der Grenze. Wir müssen wissen, wer kommt, entscheiden können, mit wem wir solidarisch sind, wen wir auch aus wirtschaftlichen Interessen einladen. Das ist auch die Voraussetzung dafür, um über die Verteilung von Lasten in Europa zu sprechen. Sind die Außengrenzen kontrolliert, wird man auch mit Polen und Ungarn anders sprechen können. Die müssen auch ihren Beitrag leisten, notfalls über die Streichung von EU-Fördergeldern.
Frage: Kanzlerin Merkel setzt nach wie vor auf eine europäische Einigung. Kann sie Europa noch überzeugen?
LINDNER: Frau Merkel versucht in Wahrheit, ihre eigenen ethischen Abwägungen anderen vorzugeben. Franzosen und Schweden, Niederländer und Österreicher denken ganz anders als wir. Insbesondere das asylfreundliche und grün-rot regierte Schweden verfolgt eine andere Politik. Schweden sieht sich nicht mehr in der Lage, weitere Flüchtlinge aufzunehmen. Es will jetzt den Menschen dort helfen, wo sie sich auf der Flucht aufhalten. Das ist die richtige Strategie. Denn das Ziel muss ja auch sein, die Zahl der Zuwanderer zu reduzieren – auch durch die Vermeidung von Flucht. Zudem muss klar gemacht werden, dass das Asylrecht kein allgemeiner Einwanderungsparagraf ist.
Frage: Ist Deutschland zu attraktiv?
LINDNER: Die Gesten des letzten Sommers haben verdeckt, dass auch unsere Möglichkeiten begrenzt sind, jemandem ohne Sprachkenntnisse und Ausbildung sofort einen Arbeitsplatz und eine Wohnung zu ermöglichen. Meine große Sorge ist, dass Hunderttausende von Menschen, die ihre Ersparnisse kriminellen Schleppern gegeben haben, bitterlich enttäuscht werden.
Frage: Sie sehen Deutschland isoliert. Wie kam es dazu?
LINDNER: Wir dürfen nicht länger den Versuch unternehmen, Europa deutsch zu machen. Wir müssen ein europäisches Deutschland sein. Dafür ist ein Weg der Mitte notwendig. Abschottung, wie sie die AfD will, ist inhuman und unrealistisch. Aber bitte auch keine multikulturelle Naivität, wie wir sie auf der anderen Seite sehen. Wir brauchen einen Weg der Verantwortungsethik. Ich frage mich, wie hätte Helmut Schmidt heute als Kanzler gehandelt? Der wäre nicht Affekten gefolgt, sondern hätte stets überlegt: Was sind die Folgen fürs Land, für Europa und vor allem auch für die Menschen auf der Flucht?
Frage: Wie stehen Sie zu der versprochenen Visafreiheit für Türken?
LINDNER: Visaerleichterungen sind auch in unserem Interesse, auch aus wirtschaftlichen Gründen. Über diese Fragen kann man sprechen, aber man muss in Menschenrechts- und Bürgerrechtsfragen Klartext reden und darf nicht erpressbar werden.
Frage: Das rot-grüne Rheinland-Pfalz setzt auf freiwillige Ausreise statt Abschiebung. Wie verträgt sich der Pragmatismus mit Ihrem Verständnis von Rechtsstaatlichkeit?
LINDNER: Gar nicht. Der Staat darf nicht alles, muss unsere Freiheit achten. Aber auf bestehende Gesetze müssen sich alle verlassen können. Dazu gehört auch, dass der Staat getroffene Entscheidungen durchsetzt. Ich halte auch nichts von Symboldebatten. Wenn Julia Klöckner ein Integrationspflichtgesetz fordert, frage ich mich: Was soll da drinstehen? Unsere Rechtsordnung gilt für jeden. Frauen werden in der Kölner Silvesternacht nicht durch ein Integrationsgesetz geschützt, sondern nur durch ein wirksames polizeiliches Sicherheitskonzept. Dazu muss auch Rheinland-Pfalz mehr Polizeibeamte einstellen. Wenn der Innenminister dieses Landes sagt, mehr Polizei könne er nicht einstellen, weil die Kapazität der Polizeischule nicht ausreicht, ist dies absurd. Da sich die Sicherheitslage nicht an der Kapazität von Polizeischulen orientiert, muss es umgekehrt sein. Das Land braucht den politischen Wechsel.
Frage: Beim Thema Abschiebung sagen auch Landräte, freiwillige Ausreisen von Flüchtlingen seien preiswerter. Ist dies kein Argument für Sie?
LINDNER: Wer keinen Aufenthaltstitel hat, muss ausreisen. Wir haben klare Regeln, die eingehalten werden müssen. Das heißt: Wenn jemand nicht freiwillig geht, muss der Rechtsstaat dafür sorgen.
Frage: Vermutlich zieht die AfD am Sonntag in drei Landtage ein – mit mehr Prozenten als die FDP. Wie kam es dazu?
LINDNER: Die AfD ist nicht unser direkter Wettbewerber, sie ist das Gegenteil von uns. Wir kämpfen für ein weltoffenes, Europa zugewandtes Deutschland. Die AfD will sich in einem Nationalstaat verschanzen. Wir kämpfen für gesellschaftliche Liberalität. Die AfD will Homosexuelle wie in anderen geschichtlichen Epochen wieder zählen, sie will bei Scheidungen zum Schuldprinzip der Adenauerzeit zurück. Die AfD will von Krisen als Geschenk profitieren, wir wollen sie lösen. Die FDP ist der schärfste Kontrast zum völkischen Kollektivismus der AfD.
Frage: Wie problematisch ist es für die Demokratie, wenn die AfD in drei weitere Landtage einzieht?
LINDNER: Die gute Nachricht ist doch: Die überwiegende Mehrheit teilt nicht die Meinungen der AfD. Die Extreme machen immer noch die Minderheit aus. An die, die sie aus Protest wählen wollen, ist zu appellieren, lieber den Rechtsstaat und nicht die Rechtspopulisten zu stärken.
Frage: Wie groß ist für Sie die Gefahr, wenn es immer mehr Große Koalitionen gibt?
LINDNER: Uns beschäftigen viel mehr die Themen des Landes: Das Flüchtlingsthema überstrahlt derzeit alles. Aber wer denkt an die vergessenen Themen? Wir verspielen gerade unseren wirtschaftlichen Wohlstand, weil die Große Koalition eine Staatsaufgabe nach der anderen erfindet. Es fehlen Offensiven bei Bildung, Infrastruktur und Digitalisierung. In Zeiten, in denen es fast nur noch sozialdemokratische Parteien und auf der anderen Seite kollektivistische Parteien wie Linke und AfD gibt, ist die liberale Stimme besonders wichtig. Und zur Not machen wir darauf eben als liberale Opposition aufmerksam.
Frage: Opposition ist nicht immer nur Mist?
LINDNER: Im Gegenteil. Sie hat eine wichtige Aufgabe in der parlamentarischen Demokratie. Wenn alle anderen auf Staat und Fürsorge setzen, muss es eine Partei geben, die auf die Kraft der Bürgergesellschaft vertraut.
Frage: Bis 2006 war die FDP in der Landesregierung. Welchen Weg hat Rheinland-Pfalz genommen, seit sie nicht mehr mitregiert?
LINDNER: Rheinland-Pfalz war damals ein Innovationstreiber in Deutschland. Der erste Entwurf eines Einwanderungsgesetzes stammte von der FDP. Wir haben für einen Kurs der wirtschaftlichen Vernunft gesorgt und das Nürburgring-Abenteuer verhindert. Nach dem Ausscheiden der FDP ging es der SPD nicht schnell genug damit, das Ende ist bekannt und teuer. Deshalb wollen wir das Land wieder auf diesen Kurs zurückbringen. Das Geld muss in Modernisierung von Bildung und Infrastruktur investiert werden, nicht in staatliche Prestigeprojekte, die der Staat erst subventioniert und die dann den Staat ruinieren.
Frage: Wie will die FDP die Energiewende gestalten?
LINDNER: Mit Vernunft. Daran mangelt es. Rot-Grün will Windräder auch da bauen lassen, wo Stromtrassen fehlen und wo besonders wenig Wind weht. Für das völlig sinnfreie Unterfangen werden die Subventionen erhöht, die dann die Rentnerin oder der Bafög-Bezieher bezahlen.
Frage: Malu Dreyer oder Julia Klöckner? Von wem sähen Sie Rheinland-Pfalz besser regiert?
LINDNER: Ich schätze Julia Klöckner persönlich sehr, die programmatischen Übereinstimmungen sind auch größer als mit Rot-Grün. Gleichwohl bin ich mir nicht sicher, was Julia Klöckners politische Linie ist. In der Flüchtlingspolitik unterstützt sie Frau Merkel, legt sicherheitshalber aber das Gegenkonzept A2 vor. Wer CDU wählt, weiß gar nicht, welche Politik er nach dem Wahltag bekommt. Deshalb lautet mein Rat, die Leute sollen sie auch nicht wählen, sondern die FDP.