LINDNER-Interview: Nicht nur auf das Herz hören, sondern auch auf den Kopf
Berlin. Der FDP-Bundesvorsitzende CHRISTIAN LINDNER gab dem „Stern“ (aktuelle Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellten JENS KÖNIG, CHRISTIAN KRUG und AXEL VORNBÄUMEN.
Frage: Herr Lindner, beginnen wir mit einem schnellen Fragespiel. Deutschland ist ein selbstzufriedenes, tief verunsichertes Land. Richtig oder falsch?
LINDNER: Leider richtig.
Frage: Deutschland gibt der Welt in der Flüchtlingskrise ein Beispiel für Offenheit und Barmherzigkeit?
LINDNER: Leider auch für Irrationalität und Alleingänge in Europa.
Frage: Deutschland wird von einer politischen und medialen Elite regiert, die sich von großen Teilen des Volkes entkoppelt hat?
LINDNER: Daran ist nichts wahr. Die Leute, die das vertreten, wollen die Liberalität unseres Landes zerstören. Bei aller berechtigten Kritik an der Regierung – wer die Legitimität gewählter Politiker in Zweifel zieht und sich selbst zur eigentlichen Stimme des Volkes aufschwingt, ist ein Rechtspopulist.
Frage: Angela Merkel ist für dieses Deutschland die ideale Kanzlerin?
LINDNER: Nein, ist sie nicht. Ihre Stärke lag darin, das Land in Krisen zu beruhigen. Diesen Nimbus hat sie mit ihrer chaotischen Flüchtlingspolitik verspielt. Frau Merkel hat keinen Ehrgeiz, unser Land zu gestalten.
Frage: So, und warum brauchen wir die FDP?
LINDNER: Weil wir ein positives Menschenbild haben.
Frage: Ihr Ernst?
LINDNER: Ja. Wir Liberale vertrauen darauf, dass Menschen im vernünftigen Miteinander bessere Antworten finden als der Staat. Wir glauben, dass die besten Zeiten noch kommen, wenn wir den Menschen die Freiheit lassen, Chancen wie die Digitalisierung zu gestalten. Ihre Kreativität, ihr Verantwortungsgefühl und ihr Gründergeist dürfen nicht durch maßlose Politik gefesselt werden.
Frage: Flüchtlingskrise, Syrienkrieg, Antiterrorkampf – die FDP kann nur zugucken. Oder sind Sie froh, in diesen schweren Zeiten nicht mitregieren zu müssen?
LINDNER: Mindestens will ich wieder im Bundestag die Position der FDP darlegen, um Alternativen zu zeigen. Ich leide darunter, dass es in der Flüchtlingsdebatte lange Zeit nur zwei Positionen gab: grenzenlose Willkommenskultur hier; dumpfe, reaktionäre Abschottungspolitik dort. Wo war da eine Position der Mitte, der Abwägung?
Frage: Nehmen wir zu viele Flüchtlinge auf?
LINDNER: Wir haben eine humanitäre Verantwortung. Wir können aber nicht jede Woche 10 000 Flüchtlinge aufnehmen, weil wir deren Hoffnungen enttäuschen und unsere Möglichkeiten überfordern würden. Die Sogwirkung muss reduziert werden.
Frage: Wie?
LINDNER: Wir müssen für Flüchtlinge einen Status schaffen, der sich am Umgang mit den Jugoslawien-Flüchtlingen in den 90er Jahren orientiert: einen vorübergehenden humanitären Schutz mit dem Ziel, sie später wieder in ihre Heimat zurückkehren zu lassen. Das sollte durch ein modernes Einwanderungsgesetz ergänzt werden. Die Zuwanderung nach Deutschland muss an klare Kriterien gebunden werden, etwa so wie in Kanada, damit die gut integrierten, qualifizierten Menschen entscheiden können, ob sie bleiben oder am Aufbau ihrer alten Heimat mitwirken wollen.
Frage: Sind Sie mehr bei Seehofer oder Merkel?
LINDNER: Schlimm, wenn es nur diese Alternative gäbe. Ich vermisse die Verantwortungsethik eines Helmut Schmidt. Nicht nur auf das Herz hören, sondern auch auf den Kopf. In Deutschland haben edle Motive Konjunktur. Es gibt einen erschreckenden Mangel an Realismus und vernünftigen Strategien.
Frage: Was hat Sie an Angela Merkel in diesem Jahr am meisten überrascht?
LINDNER: Die Bundeskanzlerin neigt in bestimmten Drucksituationen zu Ad-hoc-Entscheidungen. Denen muss sie dann jahrelang hinterherregieren. Möglicherweise ist das die Kehrseite ihrer sonst kleinteiligen Arbeit am Status quo: die Affekthandlung.
Frage: Stimmt unser Verdacht, dass Ihr Ton kritischer ist, als wenn sie mit der Kanzlerin zusammen in einer Koalition säßen?
LINDNER: Nein. Ich habe seit Herbst 2013 mit großem Respekt von Angela Merkel gesprochen …
Frage: Zum Beispiel so: „Die Kanzlerin hat den Höhepunkt ihrer Amtszeit hinter sich.“
LINDNER: Der Satz ist aus jüngster Zeit – und richtig.
Frage: Haben Sie schon eine Entschuldigung parat, wenn Sie ihr 2017 bei Koalitionsverhandlungen gegenübersitzen?
LINDNER: Dazu habe ich keine Veranlassung. Es ist doch offensichtlich, dass Frau Merkel an Führungsstärke verloren hat. Darüber kann ich mich allerdings nicht freuen. Das Chaos, das sie mit ihrer Flüchtlingspolitik angerichtet hat, spült eine rechtspopulistische, völkische Bewegung wie die AfD erst nach oben.
Frage: Die AfD ist so etwas wie die Erfolgspartei der Stunde. Kratzt das nicht an Ihrem Selbstbewusstsein?
LINDNER: Die AfD profitiert von Angst, wir wollen Ängste bekämpfen. Unsere Anhänger sind nicht dort, sondern bei den Nichtwählern oder schlecht gelaunt bei der Union geparkt. Die bekommen wir nicht hinter uns versammelt, indem wir anderen nachlaufen. Statt opportunistisch zu sein, haben wir die Dosis Liberalismus erhöht.
Frage: So bescheiden?
LINDNER: Mit dem Urteil kann ich gut leben.
Frage: Gehört das zur neuen FDP?
LINDNER: Wir haben 2013 eine vollständige Niederlage erlitten. Das tat weh, hatte aber auch etwas Gutes: Die FDP hat sich selbst befreit – von kleinkariertem Denken und der Angst, was andere über uns sagen. Wir haben wieder unsere Mitte gefunden.
Frage: Wie geht so etwas?
LINDNER: Am Anfang haben wir uns nicht die Frage gestellt, wie die FDP zurück in den Bundestag kommt. Sondern: Warum wurde die FDP gegründet?
Frage: Die Antwort lautet?
LINDNER: Um den Einzelnen stark zu machen – nicht den Staat. Diese Besinnung auf den Einzelnen haben wir durchdekliniert.
Frage: Wo sind Sie dabei gelandet?
LINDNER: Zuerst bei der Bildung – der vernachlässigten Schlüsselfrage für die Zukunft. Das fängt im Alltäglichen an. Es kann doch nicht sein, dass sich ein achtjähriges Mädchen ab der dritten Stunde nicht mehr auf den Unterricht konzentrieren kann, weil es eigentlich aufs Klo müsste. Dort ist es aber so versifft, dass es sich nicht traut. Es kann nicht sein, dass in unseren Schulen immer noch Unterricht ausfällt. Und es kann nicht sein, dass sich die Schüler in der Pause auf ihren Handys mit der digitalen Welt beschäftigen und dann im Klassenraum vor einer Schiefertafel sitzen.
Frage: Soweit die traurige Gegenwart.
LINDNER: Wenn wir Bildungsweltmeister werden wollen, dann müssen wir den digitalen Wandel vollziehen. Und wir müssen Schluss machen mit unserer Form des Bildungsföderalismus, in der Schulen keine Freiheit haben, dafür aber 16 Länder pädagogische Moden verfolgen. Deutschlands Bildung braucht mehr Mobilität statt kleinteiliges Durcheinander. Der Bund sollte diese Modernisierung mitfinanzieren. Nötig sind gemeinsame Bildungsstandards für das Abitur und alle anderen Abschlüsse. Was aber macht die Bundesregierung? Kurzatmige Krisenpolitik.
Frage: Die Welt ist aus den Fugen, es gibt nun mal viele Krisen zu bewältigen.
LINDNER: Dabei verliert die Große Koalition aber die Zukunftsfähigkeit unseres Landes aus den Augen. Sie verteilt, als gäbe es kein Morgen. Rente mit 63, Abwicklung der Agenda-Politik, subventionierte Energie und weniger Flexibilität am Arbeitsmarkt. Wir brauchen ein Deutschland-Update.
Frage: Großes Wort.
LINDNER: Aber notwendig. Noch freuen wir uns an unserer Stärke. Es wird jedoch zu wenig investiert, die Infrastruktur verschleißt, unsere Wettbewerbsfähigkeit sinkt. Wenn wir nichts tun, spricht man vielleicht schon bald von einer Deutschlandkrise.
Frage: Und Sie haben einen Plan?
LINDNER: Fangen wir an mit mehr Flexibilität im umfassenden Sinn. Einfache Existenzgründung, flexible Arbeitszeiten, flexibler Einstieg in die Rente. Wieso wird jeder Zipfel Leben durchreguliert? Und es regt mich wahnsinnig auf, dass zwei Billionen Euro an privatem Kapital in Deutschland nicht vernünftig genutzt werden.
Frage: Die Freiheitspartei FDP will an das private Geld der Bürger?
LINDNER: Wir sollten die Anlagepolitik liberalisieren. Der Staat lenkt alles am liebsten in die Staatsanleihe, die den Sparern keine Zinsen bringt, aber Politik auf Pump ermöglicht. Wie wäre es, wenn wir ein, zwei oder drei Prozent dieses Geldes, das derzeit in Lebensversicherungen festliegt, in Infrastruktur investieren oder damit innovative Start-ups finanzieren? Wenn uns das gelänge, wäre es ein enormer Schub. Ich sage nur: mehr Marktwirtschaft wagen.
Frage: Herr Lindner, Sie klingen gerade wie ein Fußballexperte, der Jogi Löw sagt, wie es in der Nationalmannschaft laufen müsste – der aber keinen Einfluss hat.
LINDNER: Das ist nun mal die Aufgabe von Opposition: Alternativen aufzuzeigen.
Frage: Sie sind ja nicht mal Opposition.
LINDNER: Doch, nur außerhalb des Bundestages.
Frage: Ist APO nicht deprimierend?
LINDNER: Es ist jedenfalls kein Wunschzustand. Nach vier Jahren sollte unsere Parlamentspause zu Ende sein.
Frage: Bei der Bundestagswahl 2013 landete die FDP bei 4,8 Prozent. Stand Ende 2015: zwischen vier und fünf Prozent. Erfolg sieht anders aus.
LINDNER: Viele glaubten doch, die FDP zerbreche nach ihrer Niederlage, laufe den Eurohassern hinterher oder würde die nächste sozialdemokratische Partei. Nichts davon ist passiert. Wir sind immer noch da.
Frage: Viele vermissen die FDP nicht.
LINDNER: Wer sich für die FDP entscheidet, der wählt eben etwas Besonderes, kein Mehrheitsprogramm. In Hamburg und Bremen haben wir erste Erfolge erzielt. 2016 geht es darum, den Trendwechsel zu dokumentieren. Wir wollen in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt in die Landtage einziehen. Das wäre ein Signal, das im ganzen Land gehört würde.
Frage: Neben Gelb und Blau ist Magenta die neue FDP-Farbe. Hat das was gebracht?
LINDNER: Hat es. Bei unserem Dreikönigstreffen vor einem Jahr wollte ich unser erneuertes Profil vorstellen. Sieben Journalisten hatten sich akkreditiert. Also haben wir durchsickern lassen, wir würden die Farben wechseln. Plötzlich meldeten sich 78 an. So ist Mediendemokratie.
Frage: Und wir dachten, Sie wollten nur nicht Gefahr laufen, von Ihrer Frau einen gelben Pullunder geschenkt zu bekommen.
LINDNER: Gelbe Pullunder muss man sich erst verdienen.