LINDNER-Interview: Klimaschutz mit Wohlstand verbinden
Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner gab dem „Focus“ (aktuelle Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellten Margarete van Ackeren und Marc Etzold.
Frage: Seit zwei Jahren erleben wir enorme Umbrüche. Erst kehrte die FDP in den Bundestag zurück und die AfD zog erstmals ein. Dann scheiterten die Jamaika-Verhandlungen. Nun haben die Grünen die SPD als zweite Kraft abgelöst und konkurrieren mit der Union um Platz eins. Welche Schlüsse ziehen Sie daraus?
Lindner: Man muss ergänzen: Momentan ist in manchen ostdeutschen Ländern die AfD stärkste Kraft.
Frage: In Görlitz konnte am vorigen Wochenende gerade noch verhindert werden, dass ein AfD-Politiker zum Bürgermeister gewählt wurde.
Lindner: Ich mache mir Sorgen um unser Land. Es gibt eine enorme Polarisierung. Einen Pol sieht man in Städten wie Hamburg, wo die Grünen stärkste Kraft sind. Und in Ostdeutschland, wo viele momentan die AfD unterstützen, gibt es einen anderen Pol. Zwischen diesen Polen ist Verständigung schwer möglich. Insgesamt scheint die Mitte unter Druck zu geraten, die für ein liberales Lebensgefühl steht, die traditionell auf Eigenverantwortung und Mäßigung setzt, die an Weltoffenheit und wirtschaftlicher Vernunft gleichermaßen interessiert ist.
Frage: Sie meinen: Eine Mitte, die offen ist für eine Partei wie die FDP.
Lindner: Mir geht es hier nicht um die FDP, sondern um unser Land. Diese Polarisierung führt auch dazu, dass nur wenige Themen dominieren. Es gibt aber viele Fragen. Wie sichern wir unsere wirtschaftliche Stärke? Wie machen wir die Digitalisierung zu einer Chance? Wie ist unsere Antwort auf Macrons Vorstellungen von Europa? Wie erreichen wir ein Bildungssystem, das endlich die Zahl der Schulabgänger ohne Abschluss reduziert und zugleich international wieder Spitze ist? Da dürfen wir keine Zeit verlieren.
Frage: Sie haben neulich mit Blick auf die Rolle der FDP gesagt: „Die Musik spielt woanders.“ Müsste die FDP vielleicht eine andere Platte auflegen?
Lindner: Überzeugungen sollte man nicht an Mitbewerbern ausrichten. Grüne und AfD sind stark – aber wir sind nicht wie die Grünen und erst recht nicht wie die AfD. Wir vertrauen auf den einzelnen Menschen. Deshalb sind uns einerseits Formen von Enteignung und Planwirtschaft, andererseits völkisches Kollektivdenken fremd.
Frage: Haben Sie gar nicht den Anspruch zu wachsen?
Lindner: Doch, ich sehe natürlich mehr Potenzial. Aber das wollen wir dauerhaft überzeugen. Ich glaube zudem, es stößt viele Menschen ab, dass es in Berlin scheinbar nur noch um Taktik, Karrieren und Prozente geht. Mir fehlen sachliche Debatten über die Zukunftsfragen.
Frage: Bei der Europawahl kam ihre Partei nur auf 5,4 Prozent. Es muss Ihnen doch zu denken geben, dass Sie von der Schwäche von Union und SPD null profitieren.
Lindner: Unsere Kampagne hat nicht gezündet. Dennoch haben wir die Zahl unserer Stimmen von einer auf zwei Millionen verdoppelt. Darauf kann man aufbauen. Denn ich bin überzeugt, dass unsere Positionen in der Sache sogar mehrheitsfähig sind.
Frage: Woran zeigt sich das zum Beispiel?
Lindner: Wir brauchen ein Einwanderungsgesetz, das die Bürokratie für qualifizierte Einwanderung abschafft. Wir müssen bei Zugewanderten konsequenter auf den Regeln des Miteinanders bestehen, aber zugleich für Gutwillige mehr Integrationschancen schaffen und Toleranz im Alltag leben. Die andere Seite: Wir müssen durch Grenzschutz die Kontrolle darüber sichern, wer zu uns kommt. Wer weder bedroht noch qualifiziert ist, kann nicht bleiben. Und wer kein Aufenthaltsrecht hat, muss wirksam abgeschoben werden. Solche Positionen sind mehrheitsfähig. Die AfD, die völkischen Rassismus in ihren Reihen billigt, ist es nicht. Und die Grünen, die als einzige Partei blockieren, dass die Maghreb-Staaten zur leichteren Abschiebung als sichere Herkunftsstaaten ausgewiesen werden, stehen auch nicht für die Mehrheit.
Frage: Genau in diese Richtung bewegt sich doch auch die große Koalition.
Lindner: In Deutschland vollzieht sich der offensichtlich notwendige Paradigmenwechsel nur zögerlich. Deshalb sind viele Menschen unzufrieden mit dem Status quo.
Frage: Grüne und Union kämpfen im Bund um den ersten Platz. Würden Sie einen grünen Kanzler oder eine grüne Kanzlerin wählen?
Lindner: Das ist mir zu spekulativ und spielerisch. Uns geht es um Inhalte.
Frage: Im Moment gibt es für die FDP keine Machtoption ohne die Grünen.
Lindner: Tatsächlich lassen die Umfragen Grün-Rot-Rot als möglich erscheinen. In Bremen haben sich die Grünen für die Linkspartei und gegen CDU und FDP entschieden. Es wird sich erst in einem konkreten Wahlkampf zeigen, ob die Menschen diesen Linksruck wollen. Die Leute, die ich treffe, regen sich eher über den Zustand der Schulen, Steuerbelastung oder Funklöcher auf. Aber sie kreisen eben nicht um die Frage, ob ein Grüner Kanzler wird.
Frage: Mögen Sie Robert Habeck eigentlich?
Lindner: Persönlich kenne ich ihn zu wenig. In der Politik sollte es auch nicht um persönliche Sympathien gehen, sondern darum, was in der Sache bewegt werden kann.
Frage: In einem gemeinsamen Talkshow-Auftritt haben Sie beide mal minutenlang die Debatte bestimmt. Wie stehen Sie zueinander? Sie duzen sich ja …
Lindner: Robert Habeck hat mir das kollegiale Du angeboten, als er neu Parteivorsitzender wurde. Im Arbeitsalltag habe ich vor allem Kontakt zur grünen Fraktion.
Frage: Persönliche Sympathien zwischen Politikern machen etwas aus. Das hat Ihr Parteifreund Wolfgang Kubicki in Schleswig-Holstein beim Start von „Jamaika“ gezeigt. Und Sie waren doch in NRW mit Armin Laschet (CDU) auch ganz gut im schwarz-gelben Bündnis unterwegs.
Lindner: Das ist untertrieben. Wir haben gemeinsam innerhalb von vier Wochen eine erfolgreiche Koalition verhandelt. Das lag aber vor allem an der Herangehensweise.
Frage: Was kann man denn da von der schwarz-gelben Zusammenarbeit in NRW lernen?
Lindner: Jeder Partner muss die Chance haben, eigene Akzente zu setzen – und sich auf Fairness des anderen verlassen können. Man sollte den anderen nicht vorführen, sondern ihm auch Erfolge gönnen.
Frage: Und daran ist „Jamaika“ im Bund gescheitert, bevor es zustande kam?
Lindner: Das ist jetzt nun wirklich schon lange her …
Frage: Die Regierungsbildung in NRW ist noch länger her …
Lindner: Deshalb sollte man nach vorne blicken.
Frage: Wie ist das mit Ihnen und Annegret Kramp-Karrenbauer. Sie ist ja stark unter Druck geraten …
Lindner: Wir haben einen regelmäßigen Austausch. Als Annegret Kramp-Karrenbauer ins Amt kam, wurde sie fast gefeiert. Jetzt wird quasi jedes Wort gegen sie ausgelegt. Bei aller notwendigen Abgrenzung und Kritik finde ich das maßlos. Und wie Andrea Nahles aus der Politik ausgeschieden ist, sollte uns ebenfalls nachdenklich stimmen. Es gab bei ihr nicht nur Mobbing in der eigenen Partei, sondern auch öffentliche Häme, die die Persönlichkeit auf wenige Filmsequenzen reduzierte.
Frage: Sie selbst stehen immer wieder im Mittelpunkt von Shitstorms.
Lindner: Wer aus der Spitzenpolitik eigentlich nicht? Herr Habeck hat Twitter deshalb sogar verlassen. Ich selbst nehme das sportlich. Mitunter äußert man sich ja auch mal missverständlich oder unüberlegt, da ist Dresche der Preis. Bedauerlich ist, dass kaum je nachgefragt wird, wie eine verunglückte Formulierung eigentlich wirklich gemeint war.
Frage: Sie polarisieren enorm. Sind Sie noch der richtige Parteichef für die FDP?
Lindner: Seit 19 Jahren bin ich Abgeordneter und habe nie Kontroversen gescheut. Gerade erst hat mich unser Parteitag mit 87 Prozent wiedergewählt.
Frage: Richten Sie sich auf schnelle Neuwahlen ein?
Lindner: Das liegt nicht in unserer Hand. So oder so, notwendig ist schnell eine handlungsfähige Regierung. Denn es besteht die Gefahr, dass die Wirtschaft in eine Rezession rutscht. Zudem übernimmt Deutschland in einem Jahr die EU-Ratspräsidentschaft.
Frage: Die SPD wird wohl erst in einigen Wochen oder Monaten entscheiden, ob sie aussteigt.
Lindner: Die Regierung begibt sich in die Hände von Kevin Kühnert, der entscheidet, wohin die SPD steuert. Das ist noch schlechter als Neuwahlen.
Frage: In einigen Wochen wird im Osten gewählt. Sind dort für den Leistungsgedanken, für den die FDP steht, überhaupt viele Menschen zu haben?
Lindner: Aus ihrer Frage könnte Geringschätzung gelesen werden. Natürlich sind viele Menschen in Ostdeutschland für den Leistungsgedanken zu haben. Ich habe großen Respekt, wie die Menschen mit dem Umbruch der Einheit umgegangen sind. Ich finde spannend, dass es im Osten viele Menschen gibt, die mit Vernunft und naturwissenschaftlich-technischen Fakten argumentieren – vielleicht sogar mehr als im Westen. Vor 30 Jahren sind die Menschen dort für die Freiheit auf die Straße gegangen. Heute gibt es dort mit der etablierten Politik eine Katerstimmung. Das ist ein Auftrag an alle.
Frage: Ist Ihre neue Generalsekretärin Linda Teuteberg eine Art Ost-Beauftragte der FDP?
Lindner: Nein. Wir besetzen Führungspositionen nicht nach Herkunft oder Geschlecht. Linda Teuteberg ist Generalsekretärin, weil ich die Position und Note schätze, die sie in die Politik einbringt. Ein erfreulicher Zufall ist, dass sie aus Brandenburg kommt.
Frage: Zeigt der Erfolg der AfD im Osten, dass die Menschen dort mehr Angst als im Rest des Landes haben?
Lindner: Das glaube ich nicht. Greta Thunberg wünscht sich, dass Menschen in Panik vor dem Klimawandel geraten. Das bewegt im Westen viele Menschen. Politik mit der Angst wird überall gemacht.
Frage: Ein Land der Ängstigen – überzeichnen Sie nicht das Bild?
Lindner: Ich habe nur zurückgewiesen, dass der Osten ängstlicher als der Westen sei. Ich wünsche mir jedenfalls ein Land, das Mut, Optimismus, Tatkraft und Erfindergeist zu seinem Markenkern macht. Ich bin fest davon überzeugt, dass wir auch eine kreative Antwort auf den Klimawandel finden werden. Daher ist mir eine Weltuntergangsrhetorik fremd, die dazu führt, dass auch Maßnahmen für legitim gehalten werden, die tief in Freiheit und Eigentumsrechte eingreifen. Es ist geradezu unsere Pflicht, einen Pfad zum Klimaschutz zu finden, der individuelle Selbstbestimmung und Wohlstand erhält. Denn sonst würde uns niemand auf der Welt folgen.
Frage: Weshalb lehnen Sie eine CO2-Steuer ab?
Lindner: Mich überzeugt nicht, dass dies wirklich zu einer Vermeidung führt. Eine deutsche Öko-Steuer haben wir schon, die vieles teurer gemacht hat, aber nicht die erhoffte Lenkungswirkung hatte. Wir sollten lieber CO2 zu einer begrenzten, knappen Ressource machen, für die dann ein im Markt gebildeter Preis gezahlt werden muss. Das treibt die Suche nach innovativen Wegen zur Vermeidung oder Kompensation an.
Frage: Die Einnahmen einer CO2-Steuer könnten wie in anderen Ländern zurückgezahlt werden.
Lindner: Eine CO2-Steuer könnte bedeuten, dass jemand, der es sich leisten kann, einfach weitermacht wie bisher. Deshalb wollen wir ein begrenztes Budget, an dem man sich einen Anteil kaufen muss. Einen sozialen Ausgleich halten wir da aber in der Tat für nötig. Die Einnahmen des Staates aus dem Verkauf von CO2-Anteilen sollten daher pro Kopf an die Menschen zurückgezahlt werden.
Frage: Die Koalition will für 90 Prozent der Steuerzahler den Soli abschaffen. Wann kommt Ihre Klage dagegen?
Lindner: Sobald die rechtlichen Voraussetzungen für eine Klage bestehen, werden wir klagen. Verfassungswidrige Sondersteuern sind inakzeptabel. Die geplante Abschaffung des Soli für 90 Prozent der Zahler ist zudem ein rhetorischer Trick, den die CDU uns schon während der Jamaika-Gespräche aufgetischt hatte. Die Entlasteten zahlen nur die Hälfte es Aufkommens. Die andere Hälfte wird von Mittelstand, Handwerk und Wirtschaft getragen, die dringend eine Entlastung für Investitionen brauchen.