LINDNER-Interview: Henkel und Heilmann haben völlig versagt
Berlin. Der FDP-Bundesvorsitzende CHRISTIAN LINDNER gab dem „Tagesspiegel“ (Samstag-Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellten RUTH CIESINGER und ALBERT FUNK:
Frage: Herr Lindner, in Berlin steht am 18. September eine Bewährungsprobe für die FDP an. Laut Umfragen ist unklar, ob Ihre Partei ins Abgeordnetenhaus gewählt wird – trotz der Unzufriedenheit mit den regierenden Parteien. Woran liegt es, dass die FDP nicht stärker profitiert?
LINDNER: Die FDP hat bei den letzten fünf Wahlen hinzugewonnen. Übrigens meist deutlich mehr, als Umfragen uns vorher zugetraut haben. Die FDP spricht Themen an, die auf den Nägeln brennen. Als einzige Partei sind wir für das Offenhalten des Flughafens Tegel. Zweitens: Wir sind gegen die Verschwendung von Lebenszeit beim Warten in Bürgerämtern und in Verkehrsstaus. Bürokratie und mangelhafte Infrastruktur sorgen dafür, dass Menschen ihre Zeit nicht für das berufliche Fortkommen oder einfach nur die Lebensfreude nutzen können. Das wollen wir ändern.
Frage: Wieso setzen Sie so auf das Thema Tegel?
LINDNER: Es geht bei Tegel nicht um einen alten Flughafen, sondern einen Baustein moderner Infrastruktur. Sollte der Flughafen BER noch zu meinen Lebzeiten eröffnen, ist er schon zu klein. Und für Fluggäste im innerdeutschen Verkehr und Geschäftsreisende liegt er sehr ungünstig. Wenn der BER also gleich nach der Eröffnung erweitert werden müsste, stellt sich doch die Frage, ob man die bestehenden Kapazitäten nicht sinnvollerweise weiterhin nutzt. Es ist auch eine Symbolfrage: Klammert sich Berlin an den gescheiterten Plan A oder arbeitet man an einem funktionierenden Plan B?
Frage: Tegel und die Ämter, reicht das denn?
LINDNER: Natürlich thematisieren wir auch das völlige Versagen von Innensenator Henkel und Justizsenator Heilmann.
Frage: Worin zeigt sich das?
LINDNER: In Berlin wird toleriert, dass sich Bürger nicht mehr in bestimmte Stadtteile trauen können.
Frage: No-go-Areas sind uns bisher nicht so aufgefallen.
LINDNER: Mir sagen Menschen, dass sie Angst haben, zum Beispiel durch bestimmte Bahnunterführungen zu gehen. Wenn der Staat den Schutz von Leib und Leben und des Eigentums nicht mehr garantieren kann, dann ist das ein Versagen der Verantwortlichen. Der Staat muss handlungsfähig sein und sein Gewaltmonopol behaupten. In jedem Winkel dieser Stadt müssen sich die Bürger darauf verlassen können, dass Recht und Ordnung und die Freiheiten unseres Grundgesetzes gelten.
Frage: Hören wir richtig: die FDP, die neue Law-and-Order-Partei?
LINDNER: Schon Hans-Dietrich Genscher hat als Innenminister vor 40 Jahren das Bundeskriminalamt zur damals modernsten Polizeibehörde der Welt gemacht und die GSG 9 gegründet. Unser Ansatz ist auch heute: Der Staat muss in der Lage sein, den Schutz des einzelnen Bürgers und die öffentliche Ordnung zu garantieren.
Frage: Also mehr Wächterstaat?
LINDNER: Wir lehnen einen Nanny-Staat ab, der sich überall einmischt, der seine Bürger überwachen und abhören will. Oder der das Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient zerstört, weil er die ärztliche Schweigepflicht aufweichen will. Das ist genau der Staat, den wir nicht wollen. Wir wollen den liberalen Rechtsstaat, der schützt und wehrhaft ist. Mit einer Polizei, die geachtet und gut ausgestattet ist. Und einer Justiz, die ihrer Aufgabe der Strafverfolgung überall und immer nachkommt. Beides gerät wegen der Politik von Herrn Henkel und Herrn Heilmann in Berlin unter die Räder.
Frage: Welche Punkte aus dem jetzt bekannt gewordenen Forderungskatalog der Unions-Innenminister könnten Sie denn unterschreiben?
LINDNER: Die Aufstockung der Polizei – diese Forderung unterstütze ich. Auch hier in Berlin ist das dringend notwendig. Es gibt zu wenig Personal, um die kriminelle Szene in allen Ecken auszuleuchten. Ich habe nicht den Eindruck, dass sich die Berliner in den Händen von Herrn Henkel sicher fühlen. Was den Unions-Ministern aber völlig fehlt, ist ein Blick über den Tellerrand, eine europäische Komponente. Wir brauchen dringend ein europäisches Terrorabwehrzentrum, das die Arbeit der nationalen Sicherheitsbehörden koordiniert. Dazu sollte mehr Koordinierung im Kampf gegen grenzüberschreitende Schwerkriminalität und die organisierte Kriminalität kommen, worunter auch die Einbruchsbanden fallen. Und das sage ich, gerade weil die FDP ein Europa ohne Grenzen möchte.
Frage: Die Kanzlerin hat eine eher fortschrittliche Flüchtlingspolitik gemacht, oder?
LINDNER: Sie hat eine gesinnungsethische Flüchtlingspolitik gemacht, in der die edlen Motive wichtiger waren als die tatsächlichen Möglichkeiten und die sozialen Folgen verdrängt worden sind. Ein Verantwortungsethiker wie zum Beispiel Helmut Schmidt hätte sich gefragt: Ich habe ein edles Motiv, aber kann ich die Folgen auch verantworten?
Frage: Aber hat Angela Merkel nicht gerade verantwortungsethisch gehandelt, indem sie die europäischen Zusammenhänge der Flüchtlingskrise gesehen und danach gehandelt hat – und das edle Motiv wurde als Begründung nachgeschoben?
LINDNER: Diese Sichtweise teile ich überhaupt nicht. Erstens hat sie, ohne Abstimmung mit den europäischen Partnern, das Dublin-Abkommen außer Kraft gesetzt und damit den Eindruck einer grenzenlosen Aufnahmebereitschaft erweckt. Zweitens halte ich Merkels Auffassung für falsch, in Zeiten der Globalisierung könne man Grenzen nicht mehr so schützen wie früher. Beides läuft auf eine Kapitulation unseres Rechtsstaats hinaus. Drittens sind wir durch die Politik der Kanzlerin in der Flüchtlingsfrage in eine unverantwortliche Abhängigkeit von der Türkei und ihrem Präsidenten Erdogan geraten.
Frage: Was schlägt die FDP vor?
LINDNER: Wir brauchen ein Einwanderungsgesetz, in dem klar zwischen Zuwanderern und Flüchtlingen unterschieden wird. Zuwanderer müssen bestimmte Anforderungen erfüllen, Flüchtlinge bleiben in aller Regel nicht auf Dauer – das muss im Gesetz deutlich werden. Zweitens müssen wir wieder die Kontrolle über die EU-Außengrenzen zurückgewinnen. Und drittens müssen wir uns von der Türkei lösen. Das heißt nicht, dass wir jetzt von unserer Seite aus die Flüchtlingsvereinbarung mit der Türkei kündigen müssen, aber Europa braucht einen Plan B, um nicht durch Herrn Erdogan erpressbar zu sein. Ich war entsetzt, als die CDU in dieser Woche gesagt hat, es gebe keinen solchen Plan B. Auch hier wird also wieder Alternativlosigkeit behauptet, aber wer aufhört, in Alternativen zu denken, handelt fahrlässig und verantwortungslos.
Frage: Was gehört zu einem Plan B?
LINDNER: Vor allem, die EU-Grenzschutzagentur Frontex deutlich zu verstärken, sie aufzuwerten zu einer EU-Grenzpolizei mit hoheitlichen Befugnissen und erheblich mehr Personal.
Frage: Grenzschutz in der griechischen Inselwelt ist natürlich ein Problem …
LINDNER: Vielleicht müssen wir uns deshalb mit dem Gedanken anfreunden, eine Art „Schengen 2.0“ aufzulegen, also einen Raum offener Grenzen ohne Griechenland. Andererseits ist moderner Grenzschutz etwas anderes als das Aufziehen von Zäunen, er ist nicht mehr stationär, es geht hier vor allem um elektronische Überwachung und mobile Einsatzkräfte. Seenotrettung ist natürlich weiterhin ein humanitäres Gebot.
Frage: Wenn stärker zwischen Flüchtlingen und Einwanderern unterschieden werden soll, sind dann die aktuellen Integrationsbemühungen sinnvoll?
LINDNER: Notwendig und sinnvoll sind in jedem Fall Qualifikation, Spracherwerb, ärztliche Versorgung und Traumaarbeit. Darüber hinaus sollten Flüchtlinge durch ein Einwanderungsgesetz die Perspektive haben, sich für einen dauerhaften Aufenthalt in Deutschland bewerben zu können. Gerne sogar.