25.03.2012FDP

LINDNER-Interview für die "Welt am Sonntag"

Der designierte Landesvorsitzende der FDP NRW und FDP-Spitzenkandidaten zur NRW-Landtagswahl, CHRISTIAN LINDNER, gab der "Welt am Sonntag" (heutige Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellte DR. ULF POSCHARDT:

Frage: Sie sind am 14. Dezember als FDP-Generalsekretär zurückgetreten. Was war das Schönste an der Zeit als einfacher Abgeordneter?

LINDNER: Als Generalsekretär musste ich mich zu allem äußern. Als einfacher Abgeordneter durfte ich auch mal schweigen.

Frage: Ihren knapp formulierten Abschied beendeten Sie mit dem kecken Versprechen "Auf Wiedersehen". Was war vorgefallen?

LINDNER: Marktwirtschaftlich denkende, verantwortungsbewusste und tolerante Menschen brauchen eine politische Vertretung. Davon bin ich überzeugt. Für die FDP habe ich sieben Jahre als Generalsekretär gearbeitet: fünf Jahre in Nordrhein-Westfalen, zwei im Bund. Im Dezember habe ich das Amt aufgegeben, aber nicht meine Überzeugung.

Frage: Warum?

LINDNER: Ich hatte meine Gründe. Die habe ich Philipp Rösler, dem Parteivorsitzenden, in persönlichen Gesprächen erklärt.

Frage: Das wird die Parteibasis nicht befriedigen, wenn sie danach fragt.

LINDNER: Das müsste ich aushalten. Ich habe inzwischen die Erfahrung gemacht, dass es Verständnis dafür gibt, wenn man nicht alles öffentlich ausbreitet. Nur soviel: Ein persönliches Zerwürfnis gab es nicht.

Frage: Das klingt undurchsichtig. Sicher ist, dass Ihr Abgang den Parteichef nicht gestärkt hat.

LINDNER: Jetzt arbeitet ein neues Team an der Spitze. Darauf kommt es an.

Frage: Einige prominente Parteivertreter haben Ihren Abgang als "Fahnenflucht" bezeichnet.

LINDNER: Wenn Sie den Militärjargon mögen: Ich habe mich aus dem Generalstab selbst zurück in die kämpfende Truppe vor Ort versetzt. Dass ich mich vor schwierigen Aufgaben nicht fürchte, sieht man an meinem Engagement für Nordrhein-Westfalen.

Frage: Ihr Lebenslauf war bis zu diesem Tag kerzengerade. Welcher Zeitraum schwebte Ihnen als Auszeit vor, als Sie "Auf Wiedersehen" sagten?

LINDNER: Von Auszeit kann keine Rede sein. Ich habe mich als Bundestagsabgeordneter in der Technologiepolitik eingebracht. Und in der Partei habe ich den Vorsitz des Bezirks Köln angestrebt, dessen stellvertretender Vorsitzender ich acht Jahre war.

Frage: Als Sie zurücktraten, stand das Dreikönigstreffen der Liberalen bevor. Was hätten Sie der Partei gesagt?

LINDNER: Ich finde das Langweiligste ist, über Reden zu sprechen, die nie gehalten worden sind.

Frage: Wie empfanden Sie das Dreikönigstreffen?

LINDNER: Es war überschattet von dem unfreundlichen Akt der Saar-CDU, ausgerechnet während der Rede des Parteivorsitzenden die dortige Koalition zu kündigen.

Frage: Was war besonders schön an den liberalen Reden?

LINDNER: Ich mag generell liberale Reden. Zum Beispiel die von Joachim Gauck. Sein Thema "Freiheit statt Angst" beschäftigt auch mich, weil man es auf die Parteien übertragen kann. Es gibt Parteien, die schüren die Ängste der Menschen, um damit Politik zu machen. Das sieht man bei der Linken und beim radikalökologischen Teil der Grünen. Bei Union und SPD sehe ich, dass sie die Ängste der Menschen teilen. Deshalb werden von dort staatliche Beruhigungspillen verteilt, deren Dosierung aber zu Lähmungserscheinungen führt. Die FDP als Partei des Liberalismus sollte die Menschen dagegen aus ihren Ängsten befreien, ihnen neue Perspektiven aufzeigen und Energie geben, das eigene Leben in die Hand zu nehmen. Verantwortung für sich und andere zu übernehmen, das mag anstrengend sein. Aber das ist eine emanzipatorische Vorstellung, die auf das Beste in jedem Einzelnen zielt.

Frage: … das glauben wir alles gerne, aber kann man mit dem Begriff "Wachstum" Wahlen gewinnen?

LINDNER: Ich werde einem Wirtschaftsminister nicht vorhalten, wenn er Wachstum als einen zentralen Begriff seiner Arbeit versteht. Das ist sein Job! Eine Gesellschaft, die sich in den Status quo verliebt, würde Menschen auch Aufstiegschancen versperren. Ein zeitgemäßer Wachstumsbegriff kann sich allerdings nicht in Geld und Gütern erschöpfen. Er muss auch das Wachstum an Wissen und kulturellem Kapital umfassen.

Frage: Der Begriff Steuersenkung wurde in der Rede ignoriert, stattdessen spricht die FDP über Wachstum.

LINDNER: Ich bin auch ein Teil der FDP. Und ich würde lieber über das sprechen, was die Identität meiner Partei ausmacht. Die Namen Otto Graf Lambsdorff, Hans-Dietrich Genscher und Gerhart Rudolf Baum stehen alle für einen Wert - Freiheit. Dieser Wert nimmt uns in die Pflicht: Die Freiheit des Internet-Nutzers muss gegen die Sammlung seiner Daten geschützt werden. Die Freiheit des Handwerkers gleichermaßen gegen ausufernde Bürokratie und gegen entfesselte, globale Kapitalmärkte. Die Freiheit des Andersdenkenden gegen den moralisch erhobenen Zeigefinger der Mehrheit. Viel zu tun.

Frage: Das heißt: Man kann eher mit Freiheit als mit Wachstum Wahlen gewinnen?

LINDNER: Das stelle ich gar nicht gegeneinander. Wenn man die Menschen in Freiheit machen lässt, dann führen ihre Ideen und ihr Einsatz automatisch zum Wachstum von Kapital und Kultur.

Frage: Was ist mit dem FDP-Gassenhauer Steuersenkungen: ein neues Tabu?

LINDNER: Wer zahlt gerne Steuern? Aber mir sagen die Leute, bringt erst einmal die Staatsfinanzen in Ordnung. Legt unsere Kinder und Enkel über Schulden nicht weiter in finanzielle Ketten. Achtet darauf, dass der Euro stabil bleibt. Daraus muss man Konsequenzen ziehen. Das schließt weitere Steuervereinfachungen und die Herstellung von Steuergerechtigkeit bei der kalten Progression ja gar nicht aus. Der gesunde Menschenverstand setzt aber Grenzen - für die an sich wünschenswerte Entlastung, aber vor allem für die von links immer noch geforderte Ausdehnung des Wohlfahrtsstaats. Wer das nach der europäischen Schuldenkrise anders sieht, verkennt den Ernst der Lage.

Frage: Dann war die FDP 2009 nicht ernsthaft?

LINDNER: Wir schreiben das Jahr 2012. Seit 2009 haben wir manches erreicht, denken Sie an die Erhöhung des Kindergelds. Jetzt geht es aber um Antworten für heute und morgen. In Bayern hat die FDP mit der CSU angefangen, Altschulden zu tilgen. Schuldenfreiheit - was für eine faszinierende Perspektive. Das Geld der Steuerzahler, das heute für Zinsen verwendet wird, wird dort nach und nach frei für bessere Zwecke - mehr Bildung zum Beispiel.

Frage: So wie Sie über die FDP sprechen, ist das eine andere Partei als diejenige, die bei Bundestagswahlen 14,6 Prozent eingefahren hat. Wer soll sich für das neue Image interessieren?

LINDNER: Nein, der Charakter der FDP ändert sich nicht: Soziale Marktwirtschaft, Bürgerrechte, Toleranz. Jetzt ist die dringlichste Aufgabe aber, die obszönen Umverteilungsversprechen von Rot-Grün in die Schranken zu weisen. Weil wir neben der Generationengerechtigkeit auch die Leistungsgerechtigkeit im Blick behalten müssen, dürfen die Fleißigen nicht immerzu geschröpft werden. Wer sollte das besser können als eine Partei wie wir, die prinzipiell die Grenzen der staatlichen Handlungsfähigkeit im Blick hat? Das ist auch die Erwartung liberal denkender Menschen. Das sind keine Materialisten, die mit ihrem Kreuz bei uns nur ein paar Euro sparen wollten.

Frage: Was ist eigentlich so schlimm an materialistischen Wählern?

LINDNER: Nichts, aber die FDP ist keine materialistische Partei. Wir wollten auch in der Vergangenheit keine Prämien für Stimmen ausloben mit unserem Steuerkonzept: Dahinter stand immer ein gesellschaftspolitisches Konzept.

Frage: Aber lässt eine sich konsequent weiter sozialdemokratisierende CDU nicht viel Platz für die politische Schutzmacht des Besitzbürgerlichen und Wohlhabenden?

LINDNER: In Ihrer Frage steckt eine eklige Falle. Das Gegengewicht zum schwarzen, roten oder grünen Sozialdemokratismus heißt nämlich Liberalismus - und nicht Besitzbürgertum. Es geht mir nicht um Brieftaschen, sondern um das Recht auf Selbstbestimmung. Das muss gegen die Tugenddiktatur genauso verteidigt werden wie gegen eine Ellbogengesellschaft. Eine solche Ordnungsidee kann sich nicht mit den Interessen einzelner Gruppen verbünden. Und wenn, dann brauchen am ehesten die Einsteiger und Veränderungsbereiten Schutz vor Neid und Bevormundung. Da gab es in der Vergangenheit in Bezug auf die FDP manchen Verdacht, der mich richtig fuchsig gemacht hat.

Frage: Ist das der Grund für die tristen Umfragen?

LINDNER: Man erwartet gerade von der FDP professionelles Regierungshandeln. Diese Staatskunst haben wir nicht jeden Tag gezeigt. Das hat gerade unsere verantwortungsbewussten Wähler enttäuscht.

Frage: Ihr Nachfolger hat Ihren Entwurf für das Grundsatzprogramm vorgestellt…

LINDNER: … das war nicht mein Entwurf, sondern der von Patrick Döring fertig gestellte Entwurf einer Kommission. Daran waren viele beteiligt, auch Ideen von mir sind dabei. Ich bin übrigens dafür, fortlaufend über politische Grundsätze nachzudenken, weil über den Begriff der Freiheit immer wieder neu gerungen werden muss. Das sieht man an den Piraten. In deren Reihen gibt es vielleicht ein paar Liberale, aber die Partei insgesamt ist nicht liberal. Die Piraten verwechseln Freiheit mit Anarchie, wie man bei ihren Diskussionen über das geistige Eigentum im Internet sehen kann.

Frage: Aber die Piraten pflegen ihre twitternde Laptop-Community als Zielgruppe ideal.

LINDNER: Weil sie ihre programmatische Debatten im Netz führen? Das macht die FDP schon seit zehn Jahren. Ich sehe nicht, dass die Piraten ein klar umrissenes Programm oder eine definierte Zielgruppe hätten. Sie sind eine Projektionsfläche. Die Schriftstellerin Juli Zeh hat einen liebevollen Text über die Piraten in der "SZ" geschrieben und sie als sozial-liberale Partei vorgestellt. War herrlich zu lesen, hatte aber kaum etwas mit dem Programm der Piraten zu tun.

Frage: Vor gut einer Woche wurde Sie ebenso überraschend Spitzenkandidat in NRW, wie Sie damals abgetreten sind. Was war passiert?

LINDNER: Daniel Bahr und Gerhard Papke, der Vorsitzende unserer Landtagsfraktion, haben mich gebeten, die Spitzenkandidatur zu übernehmen. Es gab davor viele Briefe, E-Mails, Anrufe, SMS von der Parteibasis. Ich hatte das nicht im Plan, aber in der schwierigen Lage will ich für meine Partei kämpfen. Voraussetzung dafür war, dass ich den Vorsitz der Landespartei übernehme. Sonst wäre ich als Spitzenkandidat nicht auf Augenhöhe mit meinen Mitbewerbern gewesen. Diese Neuaufteilung der Aufgaben habe ich mit Daniel Bahr sehr kollegial verabredet.

Frage: Werden Sie im Fall eines Wahlsieges, das heißt mehr als fünf Prozent, Fraktionschef?

LINDNER: Ja.

Frage: Pokerfreunde würden sagen. Das war ein mutiger Schritt: ein "all in".

LINDNER: In Nordrhein-Westfalen geht es um viel. Die rot-grüne Minderheitsregierung hat sich hinter der von Frau Kraft erfundenen Legende verschanzt, man könnte mit guten Schulden vorsorgende Sozialpolitik machen. Was in Athen beendet wird, darf in Düsseldorf nicht neu beginnen. Denn, wie man es dreht und wendet: Um 4,3 Milliarden Euro gestiegene Gesamtausgaben und über 2000 neue rot-grüne Stellen ergeben unterm Strich einfach nicht weniger Schulden. Deshalb hat unsere Fraktion den Haushalt scheitern lassen. Das ist ein Beweis unserer Glaubwürdigkeit. Darüber hinaus geht es bei der Landtagswahl um eine Haltungsfrage: Haben die Menschen, für die Leistungsgerechtigkeit, Marktwirtschaft und Liberalität wichtig sind, eine parlamentarische Vertretung?

Frage: Wie greifen Sie an?

LINDNER: Wir werden Rot-Grün bei ihrer verantwortungslosen Wohlfühlpolitik auf Pump stellen. Deren Finanzplanung lief bis zum Ende des Jahrzehnts auf notorischen Verfassungsbruch hinaus. Entsprechende Urteile des Verfassungsgerichts gab es bereits. Ein klarer Kontrast wäre, wenn dagegen der Bund bereits 2014 eine schwarze Null schreiben würde. Die Haushaltspolitiker von Union und FDP halten das für möglich. Wenn Norbert Röttgen es ernst meint mit NRW, dann muss er auch in Berlin für diesen Weg werben. Mit den NRW-Verbänden von FDP und CDU im Rücken, hätte das Ziel der schwarzen Null im Bund eine starke Hausmacht. Das wäre ein großer Erfolg der Koalition.

Frage: Die FDP hat auch maßgeblich den neuen Bundespräsidenten gekürt. Genützt hat es der Partei kaum.

LINDNER: Für mich zählt, dass wir einen Bundespräsidenten haben, der viel Vertrauen genießt und auf dessen Impulse ich gespannt bin.

Frage: Hat die FDP diesen politischen Triumph richtig kommuniziert?

LINDNER: Ich interpretiere diese Wahl prinzipiell nicht parteipolitisch. Außerdem ist das Vergangenheitsbewältigung.

Frage: Sie sind lustig. Philipp Röslers Frosch-Humor ist nicht mal einen Monat her.

LINDNER: Wenn das so aktuell ist, sollte er Ihr nächster Gesprächspartner sein.

Frage: Werden Sie die FDP auch im Falle einer Wahlniederlage außerparlamentarisch führen?

LINDNER: Ich habe in Nordrhein-Westfalen Verantwortung für die FDP übernommen und das nicht nur bis zum Wahltag. Die FDP hat den Trend in NRW gedreht, deshalb bin ich sicher, dass wir auch wieder in den Landtag kommen.

Frage: Warum zögert Norbert Röttgen mit seinem Bekenntnis zu NRW?

LINDNER: Da betreibe ich keine Motivforschung. Das ist seine Sache.

Frage: Würden Sie die FDP auch in eine Ampel führen?

LINDNER: Solange die Parteien ihre Programme noch nicht vorgelegt haben, kann ich dazu seriös noch gar nichts sagen. Wir haben mit der rot-grünen Minderheitsregierung punktuell zusammengearbeitet, um etwa die finanzielle Lage der Gemeinden zu verbessern. An anderen Stellen haben wir uns widersetzt, zum Beispiel bei der Gefährdung der Gymnasien oder dem Schuldenhaushalt. Im Moment ist auch viel spannender, wie CDU und die Grünen miteinander flirten. Die schauen sich tief in die Augen - und so kommen sich Vater Staat und Mutter Erde richtig nahe.

Frage: Wofür würde denn die FDP im Falle einer Regierungsbeteiligung stehen?

LINDNER: Erstens für nachhaltige Finanzpolitik. Zweitens für das Bekenntnis zum Industriestandort Nordrhein-Westfalen, der unter schwarz-grüner Energie- und Infrastrukturpolitik leiden würde. Drittens für ein faires, vielfältiges und praxistaugliches Bildungssystem, in dem die Gymnasien nicht länger vernachlässigt oder ausgetrocknet werden.

Frage: Was passiert mit Philipp Rösler, wenn die nächsten drei Landtagswahlen beginnend mit dem Saarland verloren gehen?

LINDNER: In Nordrhein-Westfalen haben sich die Umfragen für die FDP binnen einer Woche nahezu verdoppelt. Es ist einiges zu tun, aber wir werden das schaffen. Deshalb stellt sich die Frage gar nicht. Wir führen keine Personaldiskussion mehr.

Frage: Wer ist "wir"?

LINDNER: Dann lassen Sie es mich so sagen: Ich konzentriere mich darauf, unsere Argumente in der Sache zu vertreten.

Frage: Wenn Sie gewinnen, ist Ihre Position in der FDP enorm stark.

LINDNER: Der nordrhein-westfälische Landesverband war immer das Rückgrat der Bundespartei.

Frage: Werden Sie Philipp Rösler im Wahlkampf prominent einsetzen?

LINDNER: Der Parteivorsitzende, Rainer Brüderle, Guido Westerwelle und viele andere werden uns unterstützen.

Frage: Was haben Sie vermisst an ihrem alten Politikerleben nach Ihrem Rücktritt im Dezember?

LINDNER: Verhöre wie diese.

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