16.09.2015FDPAsylpolitik

LINDNER-Interview: Die Flüchtlingspolitik ist chaotisch

Berlin. Der FDP-Bundesvorsitzende CHRISTIAN LINDNER gab der „Pforzheimer Zeitung“ (Mittwoch-Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellten ALBERT ESSLINGER-KIEFER, THOMAS SATINSKY, MAGNUS SCHLECHT und ALEXANDER HUBERTH:

Frage: Herr Lindner, vor knapp zwei Jahren ist die FDP aus dem Bundestag gewählt worden. Tut’s noch weh?

LINDNER: Es wäre falsch zu behaupten, dass dies nicht mit erheblichen politischen und menschlichen Härten verbunden war.

Frage: Menschliche Härten gibt es auch anderswo: Das derzeit alles beherrschende Thema ist die Flüchtlingsfrage. Wie würde deutsche Flüchtlingspolitik aussehen, wenn die FDP mit am Regierungstisch säße?

LINDNER: Wir müssen von der ungeordneten zur geordneten Zuwanderung kommen...

Frage: ...das sagt sich leicht...

LINDNER: ...ja, aber ich mache Ihnen gleich Maßnahmenvorschläge. Ich kann nicht erkennen, dass die Bundesregierung dazu eine klare Strategie verfolgt. Im Gegenteil: erst Dublin (Anm. d. Red.: das Dublin-Abkommen, wonach Asylbewerber in jenem EU-Land bleiben, in dem sie zuerst ankommen) zu erledigen, danach Schengen (Anm. d. Red.: das Schengen-Abkommen, dass den Wegfall der Grenzkontrollen vorsieht) zu relativieren, dazu habe ich nur ein Wort: Chaos. Ich halte das für den schwersten politischen Fehler der bisherigen Amtszeit von Frau Merkel – mit weitem Abstand.

Frage: Was wäre denn nun aus Ihrer Sicht zu tun?

LINDNER: Drei Punkte. Erstens: Wir müssen die Länder des Westbalkans zu sicheren Herkunftsländern erklären und gleichzeitig die Visapflicht einführen. Man kann das kombinieren mit der Möglichkeit, sich bei nachgewiesener Qualifikation in unseren Arbeitsmarkt zu bewerben. Wir wechseln damit von einem Asylrecht zu einem an deutschen Interessen orientierten Zuwanderungsrecht. Das Zweite ist: Wir brauchen ein zentrales Management durch den Bund bei gleichzeitiger Finanzierung. Es gibt Städte, die von sich sagen, sie könnten aufnehmen, bekommen aber keine Flüchtlinge zugewiesen, weil sich die Quoten an den Einwohnerzahlen orientieren.

Frage: Und der dritte Punkt?

LINDNER: Der wird uns in den kommenden Jahren sicherlich am meisten beschäftigen. Wir brauchen einen Aktionsplan Integration. Denn aus der Flüchtlingskrise heute droht morgen die Integrationskrise zu werden. Viele Hoffnungen auf eine Wohnung, einen Arbeits-, einen Ausbildungs- oder einen Studienplatz in Deutschland werden sich nicht erfüllen lassen. Da brauchen wir ein Maßnahmenbündel. Außerdem müssen jetzt, sofort, die Integrationskurse in den Aufnahmelagern beginnen. Die dürfen nicht nur die Sprache oder Hilfe bei bürokratischen Akten beinhalten, sondern wir müssen ausdrücklich die Werte des Grundgesetzes vermitteln. Es wird immer so nett gesagt, Deutschland wird, Deutschland muss sich verändern wegen der Flüchtlinge. Meine Antwort darauf ist: Auch die Flüchtlinge müssen sich verändern.

Frage: Sie müssen sich also an die deutsche Leitkultur anpassen.

LINDNER: Das Grundgesetz und die soziale Marktwirtschaft können Sie so nennen, wenn Sie wollen. Ich möchte das, weil es so missverständlich ist, nicht übernehmen.

Frage: Ein Aktionsplan Integration wird Geld kosten. Müssen wir also die Schwarze Null aufgeben oder die Steuern erhöhen?

LINDNER: Nein, ich bitte Sie. Wir haben künstlich niedrig gehaltene Zinsen, wir haben eine vom niedrigen Ölpreis geschmierte Konjunktur, wir haben die Babyboomer noch voll im Erwerbsleben. Deshalb schwimmt der Staat gegenwärtig im Geld. Von der großen Koalition werden derzeit, wie ich immer sage, die Kamellen verschossen, Süßigkeiten verteilt nach dem Motto: Was kostet die Welt? Es fehlt indes bei Investitionen und Schwerpunktsetzung. Aber Geld fehlt nicht.

Frage: Die CDU hat jetzt erstmals Offenheit für ein Einwanderungsgesetz gezeigt. Das müssten Sie eigentlich begrüßen.

LINDNER: Ich begrüße die Absicht und kritisiere den Zeitplan. Es kann doch nicht sein, dass alle wesentlichen Vorhaben in die nächste Legislaturperiode verschoben werden. Wofür haben wir überhaupt eine große Koalition? So eine übergroße Mehrheit ist doch nur gerechtfertigt, wenn die großen Themen angepackt werden.

Frage: Sie sprechen in diesem Zusammenhang gern von der Sozialdemokratisierung der CDU. Will man mit so jemandem überhaupt in eine Koalition?

LINDNER: Es sind alles natürlich Schattierungen von Sozialdemokratie im Deutschen Bundestag. Die sozialliberale Koalition, die die größten inhaltlichen Schnittmengen hat, ist allerdings die zwischen CDU und FDP.

Frage: Was ist die größere Gefahr für Europa: die Eurokrise oder die fehlende Solidarität in der Flüchtlingsfrage?

LINDNER: Alles hängt zusammen. Es stellt sich in diesen Zeiten die Frage, ob Europa nur eine Schönwetterunion ist. Ich bin zutiefst europäisch eingestellt und glaube, dass die europäische Einigung unsere Versicherung für Frieden und Wohlstand bleiben wird. Aber dafür muss Europa sich bewähren durch gemeinsames Tragen von Lasten und die Achtung von gemeinsam verabredeten Regeln. Und das sehe ich im Moment nicht. Allein die Präsenz des Ungarn Orban widerspricht der Präambel aller europäischen Verträge. Tsipras will für die Griechen eine sozialistische, keine europäische Lösung, die Briten sind auf dem Sprung – was für Europa übrigens die größte Gefahr wäre. Die Lösung kann nicht sein, dass wir weiter die Werte Europas aufweichen. Stattdessen müsste man umso entschiedener in Griechenland auf Marktwirtschaft und Rechtsstaatlichkeit, in Ungarn auf Demokratie und Pressefreiheit bestehen.

Frage: Kommen wir zur FDP. In Umfragen liegt ihre Partei noch immer bei vier, fünf Prozent.

LINDNER: Wer liest denn noch Umfragen?

Frage: Solche Sätze haben wir vor zwei Jahren auch gehört, gerade von der FDP.

LINDNER: Sie sprechen mit einem Fraktionsvorsitzenden im Landtag, der 60 Tage vor einer Wahl Spitzenkandidat geworden ist – bei zwei Prozent in den Umfragen. Wir haben dann mit 8,6 Prozent abgeschlossen. Auch in Hamburg und Bremen war ein Stück vor der Wahl die Umfragelage für die FDP noch ausbaufähig. Aber dann haben wir gepunktet.

Frage: Wie wichtig ist die Baden-Württemberg-Wahl im März 2016 für die FDP?

LINDNER: Nächstes Jahr ist für uns eine Trendwende möglich. Wir haben wieder dünnes Eis unter den Füßen, wir strampeln nicht mehr wie ein Ertrinkender. Baden-Württemberg ist im Übrigen wie kein anderes Land vom Mittelstand geprägt. Dort sind ehrliche Kaufleute unterwegs, die Vertrauen in ihre Freiheit verdient haben, und die investitionsfreundliche Rahmenbedingungen brauchen, um Arbeitsplätze zu sichern. Dafür stehen wir.

Frage: Dafür standen Sie aber auch schon in den vergangenen Jahren. Das Ergebnis ist bekannt.

LINDNER: Damals hat die FDP nicht in jeder Hinsicht den Maßstäben einer liberalen Partei genügen können. Das haben wir aufgearbeitet, es hat einen Prozess der Selbstbefreiung von Ängstlichkeit und Opportunitätsdenken gegeben, wir haben unsere Grundüberzeugungen wiedergefunden. Hinter diesen Überzeugungen haben wir zunächst die Partei versammelt und ich bin überzeugt, wir werden auch die Wähler wieder versammeln.

Frage: Holen Sie sich noch Rat bei den altgedienten FDP-Größen, etwa den ehemaligen Vorsitzenden Hans-Dietrich Genscher oder Guido Westerwelle?

LINDNER: Ja, ich habe ein enges Verhältnis zu Hans-Dietrich Genscher. Und auch mit Guido Westerwelle bin ich nach wie vor in einem regelmäßigen Austausch. Aber: Die Verantwortung tragen heute andere. Jede Zeit hat eigene Herausforderungen – und eigene Antworten.

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