29.10.2016FDPSteuern

LINDNER-Interview: Die breite Mittelschicht muss entlastet werden

Berlin. Der FDP-Bundesvorsitzende CHRISTIAN LINDNER gab der „Augsburger Allgemeinen“ (Samstag-Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellte RUDI WAIS:

Frage: Sie wollen den Solidaritätszuschlag abschaffen – und die kalte Progression und die Grunderwerbsteuer für die meisten Häuslebauer gleich mit. Tappen Sie damit nicht automatisch in die Westerwelle- Falle? Die FDP ist 2013 auch daran gescheitert, dass sie ihre Steuerversprechen nicht eingelöst hat.

LINDNER: In Deutschland leben nicht nur Superreiche und Bedürftige. Wir haben auch eine breite Mittelschicht, die entlastet werden muss. Wenn das jetzt nicht geschieht, wird der Staat bis Ende des Jahrzehntes 100 Milliarden Euro im Jahr mehr einnehmen als im Moment. Die anderen Parteien benutzen das Geld der Bürger, um damit das zu tun, was sie selbst für richtig halten. Wir wollen den Bürgern mehr von ihrem Geld lassen, damit die Bürger ihre eigenen Pläne verwirklichen.

Frage: Sie planen Entlastungen von 30 Milliarden im Jahr. Um es mit Frau Merkel zu sagen: Wie schaffen Sie das?

LINDNER: Wenn wir auf neue staatliche Ausgaben, neue Aufgaben und zusätzliche Bürokratie verzichten, haben wir schon einen großen Teil der Entlastung finanziert. Ich glaube, dass auch bestimmte Subventionen wie die für Elektroautos entfallen können, sodass ein Volumen von 30 Milliarden Euro realistisch ist.

Frage: Der Union haben Sie in der Steuerpolitik die Glaubwürdigkeit eines Handtaschenräubers attestiert. Mit diesen Räubern wollen Sie koalieren?

LINDNER: Sie haben recht, wir haben keine natürlichen Verbündeten. SPD, Grüne und Linke wollen noch weiter an der Belastungsschraube drehen. CDU und CSU kündigen vor Wahlen gerne Entlastungen an, um nach der Wahl dann doch die Steuern zu erhöhen. Das haben wir schon dreimal erlebt, erst 2005, dann 2009 und 2013 noch einmal.

Frage: Einmal waren Sie Teil einer solchen Koalition der Entlastungsverweigerer.

LINDNER: 2010 hat Frau Merkel uns am ausgestreckten Arm verhungern lassen, das passiert uns kein zweites Mal. Notfalls gehen wir lieber in die Opposition.

Frage: Auch wenn Sie vielen Menschen mit Ihren Steuerplänen aus der Seele sprechen: Entscheidet die nächste Wahl nicht alleine ein Thema – nämlich die Frage, wie Deutschland die Flüchtlingskrise in den Griff bekommt?

LINDNER: Natürlich gibt es dringende Aufgaben wie die Flüchtlingspolitik. Andererseits aber haben wir jede Menge weiterer wichtiger Aufgaben vor uns. Ich nenne nur die Digitalisierung, die Modernisierung unserer Bildungslandschaft oder eben die Entlastung der arbeitenden Mitte. Das Dringliche darf das Wichtige nicht vollständig verdrängen.

Frage: Warum gelingt es uns eigentlich nicht, genauer zwischen den Menschen zu unterscheiden, die unseren Schutz brauchen – und denen, die einfach nur ihr Glück bei uns machen wollen?

LINDNER: Das ist für mich auch ein Rätsel, und das liegt nicht zuletzt am Unvermögen der Großen Koalition, ein modernes Einwanderungsgesetz zu entwerfen. Bei Flüchtlingen muss die Rückkehr in das alte Heimatland die Regel sein, wenn dort wieder friedliche und stabile Verhältnisse herrschen – vorübergehender humanitärer Schutz kann nicht zu einem dauerhaften Aufenthalt in Deutschland führen. Auf der anderen Seite müssen wir Einwanderer, die ihr Glück bei uns suchen, was ja durchaus legitim ist, nach unseren Kriterien auswählen dürfen: Verantwortung für den eigenen Lebensunterhalt, Integrationsbereitschaft, unbedingte Akzeptanz unserer Werte und unserer Rechtsordnung. Wenn wir das nicht machen, werden wir nicht nur ein Riesenproblem mit unserem Sozialstaat bekommen.

Frage: Brauchen wir eine Obergrenze?

LINDNER: Das ist eine reine Symboldebatte. Rechtlich und politisch ist das überhaupt nicht möglich.

Frage: Die Kanzlerin setzt bei der Reduzierung der Flüchtlingszahlen auf die Türkei. Was passiert eigentlich, sollte Herr Erdogan diesen Pakt aufkündigen, unberechenbar wie er ist?

LINDNER: Genau das ist meine Sorge. Wir dürfen nicht erpressbar sein. Ich bin dafür, dass wir Abkommen mit der Türkei und nordafrikanischen Staaten wie Marokko zum Schutz der Grenze oder über die Rücknahme von Flüchtlingen schließen. Aber wir dürfen uns nicht ausschließlich auf diese Abkommen verlassen, wir brauchen auch einen europäischen Grenzschutz. Wenn ich keine Schlagbäume zwischen Deutschland und Frankreich will, dann brauche ich eine geschützte europäische Außengrenze und eine europäische Grenzpolizei. Ich könnte mir vorstellen, dass wir so auch Länder wie Ungarn oder Tschechien wieder mit ins Boot holen. Solange diese Länder keine Flüchtlinge mehr aufnehmen wollen, sollen sie im Gegenzug mehr Personal für die europäische Grenzpolizei abstellen.

Frage: Sie versuchen, die FDP als Stimme der pragmatischen Vernunft zu positionieren. Warum laufen dann trotzdem so viele Wähler aus dem bürgerlichen Lager zur AfD über?

LINDNER: Ich bezweifle, dass das so ist. Wenn ich sehe, was die Anhänger der AfD an Judenhass oder an Antiamerikanismus bei dieser Partei mit in Kauf nehmen, dürfte davon nur der kleinste Teil aus dem bürgerlichen Milieu stammen. Den Wählern, die auf die Marktwirtschaft vertrauen, auf Rechtsstaatlichkeit und auf unsere westlichen Werte, empfiehlt sich die FDP als Alternative. Die AfD appelliert an das Niedrigste im Menschen, nämlich Angst vor Fremdheit, Pessimismus und bisweilen auch Hass. Wir appellieren an das Beste im Menschen, nämlich Tatkraft, Optimismus und Vertrauen. Viele Menschen wollen eigentlich nur mehr gesunden Menschenverstand in der Politik sehen. Denen machen wir ein Angebot.

Frage: Vor fünf Jahren war es die FDP, die Joachim Gauck als Bundespräsident durchgesetzt hat. Nun hat sich Ihr Stellvertreter Wolfgang Kubicki bereits für Außenminister Frank-Walter Steinmeier ausgesprochen. Wen sähen Sie denn am liebsten in Bellevue?

LINDNER: Was-wäre-wenn-Debatten bringen nichts. Wenn die Kandidaturen feststehen, laden wir alle Bewerber ein. Danach entscheiden wir. Wir haben uns bislang ausdrücklich nicht auf einen Kandidaten festgelegt.

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