LINDNER-Interview: Aufbruch gibt es erst nach Merkel
Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner gab der „Stuttgarter Zeitung“ und den „Stuttgarter Nachrichten“ (Samstagsausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellte Christopher Ziedler.
Frage: Herr Lindner, alle reden davon, wie wichtig die Europawahl wird, für die Sie sich bei ihrem Parteitag am Sonntag wappnen. Liegt die Wahlbeteiligung trotzdem wieder unter ferner liefen?
Lindner: Das liegt an uns. Ich kann nur an alle Bürger appellieren, diese Richtungswahl wirklich ernst zu nehmen. Die beiden großen Blöcke der europäischen Sozialdemokraten und Konservativen sind ermüdet. Populisten von links und rechts stehen vor der Tür, um ihren Platz einzunehmen. Das Brexit-Referendum hat uns gezeigt, wie man sich selbst schadet, wenn man ihnen das Feld überlässt - das Land ist politisch gespalten und gelähmt. Das können wir uns aber nicht leisten, wenn wir die großen Herausforderungen Globalisierung, Digitalisierung und Migration bewältigen wollen.
Frage: Welchen Anteil hat die Bundesregierung an dieser Ermüdung?
Lindner: Ich sehe eine europapolitische Teilnahmslosigkeit in Deutschland. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron macht Vorschläge zur Weiterentwicklung der EU - und er bekommt keine echte Antwort aus Deutschland. Die Europäer warten auf Impulse – mit dieser Koalition aber wohl vergeblich. Zumindest auf der europäischen Ebene gibt es jetzt die Chance, den Stillstand zu überwinden.
Frage: Mit den Liberalen?
Lindner: Gerade die moderaten Parteien der Mitte stehen jetzt in besonderer Verantwortung. Wir sind nicht Teil des Problems, das wir in Brüssel seit vielen Jahren erleben. Wir sind aber auch nicht jene, die Europa deshalb zerstören wollen. Wir wollen das jetzige europäische Modell wieder geländegängig machen und große Fragen unserer Zeit mit Europa beantworten.
Frage: Angela Merkel würde Ihnen jetzt vielleicht entgegenhalten, dass sie erst diese Woche mit dem Aachener Vertrag einen deutsch-französischen Impuls für Europa gesetzt hat.
Lindner: Der Vertrag von Aachen ist nicht das, was ich mir an Ambition erwarte. Die Schritte zu einer Verteidigungsunion sind zu zaghaft. Es fehlt eine Initiative für einen echten digitalen Binnenmarkt. Beim Freihandel schaffen wir es nicht einmal, das Abkommen mit Kanada zu ratifizieren. Dabei müsste die EU noch viel aktiver sein, um den Welthandel, etwa mit Blick auf China, wieder fair zu gestalten. Ich lese nichts zur Migration - obwohl Deutschland die europäischen Nationen in dieser Frage auseinandergetrieben hat. Da steht nichts davon, die Subventionierung der Vergangenheit zu beenden und EU-Gelder vom Agrarsektor in die Künstliche Intelligenz umzulenken.
Frage: Welches Europa bekäme denn ein FDP-Wähler bei der Europawahl? Die Bandbreite der Liberalen reicht vom Föderalisten Guy Verhofstadt über Macron bis zu den deutschen Liberalen, die neue Gemeinschaftsinstrumente etwa für die Eurozone ablehnen.
Lindner: In der liberalen Parteienfamilie liegen wir enger zusammen als etwa die Christdemokraten, die die Spannbreite zwischen Angela Merkel bis zum ungarischen Premier Viktor Orban verdauen müssen. Wir wollen mehr Europa bei den großen Fragen, wo nur durch gemeinsames Handeln Mehrwert erzielt wird. Ein paar Punkte habe ich bereits aufgezählt.
Frage: Und was ist mit der Währungsunion, deren Unterbau immer noch nicht stabil genug für die Zukunft ist?
Lindner: Wir wollen die Eurozone stärken durch gemeinsame Institutionen, die unabhängig von der Politik die Einhaltung der Regeln überwachen und Sanktionen verhängen. Diese Forderung ist angesichts einer links- und rechtspopulistischen Regierung in Rom, die den stabilitätsorientierten Ländern die lange Nase zeigt, aktueller denn je. Darüber hinaus stellen wir uns einen Innovationsfonds vor, der nicht Geld an den italienischen Staatshaushalt überweist, sondern gezielt Regionen mit besonderem Erneuerungsbedarf fördert. Diese Position halten wir in Europa eher für mehrheitsfähig als Schuldenberge zu vergemeinschaften.
Frage: Wie wollen Sie das umsetzen? Hoffen Sie, dass Macron irgendwie EU-Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager aus Dänemark als nächste Kommissionspräsidentin durchsetzt, obwohl die Liberalen kaum größte Fraktion werden dürften?
Lindner: Das Amt des Kommissionspräsidenten ist kein Erbhof der Konservativen, auch Helmut Kohl wurde 1976 nicht Bundeskanzler, obwohl er die stärkste Fraktion hinter sich hatte. Es wird sich im Europaparlament eine Koalition für einen Kandidaten oder eine Kandidatin bilden müssen, danach haben die Staats- und Regierungschefs das Wort. Natürlich hoffen wir Liberale, dabei eine Rolle zu spielen, um den lähmenden Status quo zu beenden - Margrethe Vestager ist eine starke Persönlichkeit, der ich politisch viel zutraue.
Frage: Die Europawahl könnte innenpolitisch bedeutsam werden, falls Union und SPD schlecht abschneiden. Danach stehen Wahlen in Ostdeutschland an, es könnte eng werden für die Regierung.
Lindner: Ich will vorausschicken, dass sich die Wähler nicht von innenpolitischen Motiven leiten lassen sollten wie in der Vergangenheit. Die Europawahl sollte nicht zu einer bundespolitischen Protestwahl werden - dafür steht zu viel auf dem Spiel. Abgesehen davon haben Sie Recht: Wir erleben eine ideenlose Notgemeinschaft, die sich gerade provisorische Stabilität verordnet hat, um über diese Wahlen zu kommen.
Frage: Stellen Sie sich darauf ein, dass die Regierung durchhält? Oder liebäugeln Sie noch mit dem Aus für die "GroKo"?
Lindner: Das ist doch kein Wunschkonzert! Wir machen unsere Arbeit in der Opposition und zeigen inhaltliche Alternativen auf. Das bleibt nicht ohne Wirkung. In der Frage einer Abschaffung des Solidaritätszuschlags hat die Union inzwischen unsere Position übernommen. In der Flüchtlingspolitik will plötzlich auch die neue CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer die Vergangenheit aufarbeiten und Lehren daraus ziehen. Da tut sich was. Wann es wieder Gespräche über eine Regierungsbildung geben könnte, weiß ich wirklich nicht - ob vor neuen Wahlen oder nach neuen Wahlen. Was wir in der Sache wollen, ist den anderen Parteien aus den Jamaika-Sondierungsgesprächen bekannt.
Frage: Bei denen ist vor allem hängegeblieben, dass Sie gegangen sind, weil Sie lieber nicht als falsch regieren wollten.
Lindner: Wir sind zur Übernahme von Verantwortung bereit, wie man in drei Bundesländern jeden Tag in der Praxis erleben kann. Aber wir tragen auch Verantwortung für die Zusagen, die wir unseren Wählern gegeben haben. Das hat sich seit Herbst 2017 nicht verändert. Wer uns also ein Angebot macht für einen echten Aufbruch in Deutschland, für eine faire Zusammenarbeit, die jedem der Partner erlaubt, auch eigene Projekte umzusetzen - der kann davon ausgehen, dass wir mit im Boot sind. Dieser echte Aufbruch wird aber wohl erst nach der Ära Merkel möglich.
Frage: Meinen Sie nicht, dass Sie der Kanzlerin noch einmal hinterhertrauern werden? Sie ist doch gesellschaftspolitisch liberaler eingestellt als Annegret Kramp-Karrenbauer.
Lindner: Ich stimme Ihnen zu, Frau Kramp-Karrenbauer hat ein klares Profil, wenn es darum geht, Eingriffe in die Vertragsfreiheit und den Markt zu fordern. Und in der Gesellschaftspolitik ist sie eher restaurativ als modern. Aber sie hat einen großen Vorteil: Sie ist nicht belastet durch die in 13 Jahren Regierung getroffenen Festlegungen, die neues Denken erschweren. Ich traue Annegret Kramp-Karrenbauer eher zu als Angela Merkel, eine neue politische Farbenlehre zu begründen.
Frage: Hört sich nicht so an, als träumten auch Sie heimlich davon, dass Friedrich Merz vielleicht Unionskanzlerkandidat wird.
Lindner: Ich schätze Friedrich Merz persönlich. Mit seiner Wahl zum CDU-Chef hätten wir in Deutschland sicherlich wieder mehr über Fragen der wirtschaftlichen Dynamik diskutiert. Andererseits habe ich ihn stets als Projektionsfläche von Sehnsüchten wahrgenommen. Unabhängig von seiner parteiinternen Niederlage müssen wir jetzt mehr darüber reden, wie wir unseren Wohlstand auf den Weltmärkten sichern. Die Realität zwingt uns dazu, das Augenmerk mehr auf Wettbewerbsfähigkeit und weniger auf Verteilungsfragen zu legen.
Frage: Auch der Klima- und Umweltschutz ist nicht ganz leicht mit der Wettbewerbsfähigkeit in Einklang zu bringen. Wie bewerten Sie die bekannt gewordenen Vorschläge der Kohlekommission?
Lindner: Wir dürfen nicht vergessen, dass wir in der Energiepolitik drei Dinge in Einklang bringen müssen - Klimaschutz, die Versorgungssicherheit sowie die Bezahlbarkeit für die Bürger und die Wirtschaft. Leider habe ich den Eindruck, dass wir uns nur noch einseitig auf ökologische Ziele konzentrieren. Und immer geht es weniger um technische Innovationen als um Subventionen, Quoten und Verbote - da sind wir zu einem weltweit abschreckenden Beispiel geworden. Der planwirtschaftliche Ansatz beim Ausstieg aus der Braunkohleverstromung passt da leider ins Bild.
Frage: Was meinen Sie mit Planwirtschaft genau?
Lindner: Wenn das allseits geteilte politische Ziel lautet CO2 einzusparen, muss es egal sein, ob das über die schnelle Abschaltung eines Braunkohlekraftwerks gelingt oder über die Modernisierung einer Million Heizungen. Dass es einen Kohleausstieg geben wird, steht ohnehin fest. Wir legen aber den Weg und die Jahreszahlen genau fest - was ihn besonders teuer macht. Schaut man sich die Strompreisprognosen an, dann legen wir mit dieser Entscheidung die Axt an die Wurzel unseres Wohlstandes. Mir ist ein Rätsel, warum wir im Mutterland der sozialen Marktwirtschaft nicht mit mehr Erfindergeist und Ingenieurskunst an die Sache herangehen. Sinnvoller wäre es, CO2 europaweit einen Preis zu geben. Es würde dann überall dort eingespart, wo es am schnellsten und am günstigsten geht.
Frage: Weil Sie sagen, nur das Ziel zählt: Alle sind sich einig, dass die Schulen digital besser ausgestattet sein müssen. Der Bund will den Ländern Geld dafür geben, aber erst eine Grundgesetzänderung. Was sagen Sie Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann, der den Widerstand anführt, weil er die Länder nicht als "Verwaltungsprovinzen" des Bundes sieht?
Lindner: Wir haben in Deutschland die absolute Ungerechtigkeit im Bildungswesen. Schülerinnen und Schüler aus Baden-Württemberg, wo es ein vergleichsweise starkes Abitur gibt, sind im Nachteil, wenn sie außerhalb Baden-Württembergs auf eine Hochschule streben. Bewerber mit besseren Noten bekommen die Plätze, obwohl sie nicht unbedingt besser sind. Die Digitalisierung der Schulen ist deshalb nur der Anlass für die Grundgesetzänderung. Wir brauchen vergleichbare Standards. Der Bund muss Mitverantwortung für die Leistungsfähigkeit des Bildungssystems im weltweiten Vergleich übernehmen - Herr Kretschmann ist mit seiner Position aus der Zeit gefallen.