06.03.2014FDPMedien-, Internet- und Netzpolitik

LINDNER-Gastbeitrag für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“

Berlin. Der FDP-Bundesvorsitzende CHRISTIAN LINDNER schrieb für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ (Donnerstag-Ausgabe) den folgenden Gastbeitrag:

Das Mobiltelefon wegwerfen – das empfiehlt uns Hans Magnus Enzensberger. Der Versuch, an der Digitalisierung des Lebens schlicht nicht mehr teilzunehmen, ist ebenso elegant wie naiv: eine Satire. Der nordrhein-westfälische Justizminister Thomas Kutschaty, ein Sozialdemokrat, hat sich unlängst mit Online-Banking befasst. In der Konsequenz, so ließ er wissen, nutze er es nicht mehr. Punkt. Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier ist derweil nach Washington gereist, um für ein Anti-Spionage-Abkommen zu werben. Sein Ergebnis ist ein Arbeitskreis, in dem der Dissens mit den Vereinigten Staaten verwaltet werden soll. Boykott, Resignation oder Unterwerfung – das alles überzeugt nicht angesichts des fundamentalen Wandels unseres Lebens durch die Omnipräsenz digitaler Medien. Nötig sind offensive Antworten, um das zivilisatorische Potential dieser Technologien zu nutzen.

Vernetzung, Online-Kommunikation und die Bewirtschaftung von Daten eröffnen uns schließlich einen Horizont, der Komfort im Alltag und soziale Teilhabe, aber auch Innovation, Effizienz und damit Wohlstand verspricht. Diese großartigen Chancen nicht nutzen zu wollen wäre töricht. Ohne Zweifel sind mit ihnen aber auch Risiken verbunden. Sie hat der Präsident des Europäischen Parlaments, Martin Schulz, jüngst in dieser Zeitung treffend mit seinem Alarmwort vom „technologischer Totalitarismus“ pointiert. Die Einladung auch an Liberale, gemeinsam mit Sozialdemokraten über diese Fragen nachzudenken, ist angekommen. Allerdings kann man Martin Schulz nur wünschen, dass die Distanz zwischen seinen Entscheidungen als Parlamentarier und seiner wachen Problemsensibilität zukünftig geringer wird. Denn im Informationszeitalter, dessen Beginn wir gerade erleben, überschreitet das technisch Mögliche schnell das politisch und moralisch Gebotene: von der Gefährdung geistigen Eigentums durch Wirtschaftsspionage und der staatlichen Überwachung über die Lenkung von freien Entscheidungen durch die Macht der Statistik bis hin zur Verletzbarkeit kritischer Infrastruktur durch Cyber-Angriffe. Der Preis des Fortschritts könnten irreversible Einschränkungen unserer persönlichen Freiheit sein. Dazu darf es nicht kommen.

Insbesondere wer Überwachung und den Verlust seiner Privatsphäre fürchten muss, wird sein Verhalten und seine Kommunikation ändern. Vor einigen Jahren schon warnte der damalige Google-Chef Eric Schmidt: „Wenn es Dinge gibt, von denen Sie nicht wollen, dass irgendjemand etwas darüber erfährt, dann sollten Sie so etwas nicht tun.“ Selbstzensur ist aber die empfindlichste Form der Freiheitseinschränkung. Und besteht nicht die Gefahr, dass irgendwann nach statistischen Korrelationen entschieden wird, ob wir einen Arbeitsvertrag, einen Immobilienkredit oder eine Versicherung abschließen können? An den computerisierten Kapitalmärkten hat der Auto-Pilot bereits übernommen. Die politische Aufgabe der Gegenwart ist es daher, dem digitalen Wandel einen Rahmen zu geben. Es geht nicht darum, dem Staat Handlungsmöglichkeiten oder der Wirtschaft Wachstumschancen zu nehmen. Die Gestaltung der Digitalisierung darf sich aber nicht im Ehrgeiz des Bundesministers für digitale Infrastruktur erschöpfen, den letzten Einsiedlerhof im Allgäu mit einem Breitbandzugang zu versorgen. Denn Regeln werden benötigt: Fehlen sie, könnten sich Big Government und Big Business gegen individuelle Freiheit und gegen den freien Wettbewerb am Markt wenden. Informationsgesellschaft und -ökonomie sind deshalb Herausforderungen liberaler Ordnungspolitik.

Erstens tut eine Selbstbeschränkung staatlichen Zugriffs not: Der Rechtsstaat ist dem Schutz von Freiheit und Privatheit verpflichtet. Das Grundgesetz und die UN-Menschenrechtscharta garantieren sie. Die Bundesregierung sollte daher die bereits von ihrer Vorgängerin eingeleitete Initiative aufgreifen, den UN-Pakt über bürgerliche und politische Rechte um den Schutz der Privatsphäre im digitalen Zeitalter zu ergänzen. Wenn Deutschland in diesen Fragen prägend wirken will, sollte es freilich zunächst selbst diesen Maßstäben gerecht werden – und die anlasslose Vorratsdatenspeicherung ad acta legen.

Wir haben zudem gelernt, dass die Vereinigten Staaten das technisch Machbare zugleich für legitim halten. Das ist keine Sachfrage, die Frank-Walter Steinmeier im Cyber-Dialog zerkauen kann – es ist eine Machtfrage. Darauf haben sich Deutschland und Europa einzustellen. Das Europäische Parlament hat daher bereits zu Recht gefordert, Vereinbarungen zum Austausch von Daten zu suspendieren. Auch die EU-Kommission muss ihre Entscheidung überdenken, dass Unternehmen personenbezogene Daten in die Vereinigten Staaten übermitteln dürfen, wenn sie ein mit Europa vergleichbares Niveau des Datenschutzes zusichern („Safe Harbour“). Auf eine unsentimentale Interessenwahrnehmung der Obama-Administration könnte Europa also selbstbewusst reagieren. Im Zusammenhang mit dem prinzipiell zu begrüßenden transatlantischen Freihandelsabkommen dürfen Datensicherheit und der Schutz geistigen Eigentums nicht verschwiegen, sie sollten vielmehr als wichtige Ressourcen und ökonomische Interessen parallel verhandelt werden. Eine Verständigung mit den Vereinigten Staaten wäre auch die entscheidende Voraussetzung dafür, später überhaupt mit Akteuren wie China in einen Dialog über Cyberwarfare und Wirtschaftsspionage eintreten zu können.

Zweitens benötigt der Datenmarkt eine rechtsstaatliche Ordnung: Unsere Daten sind unser Eigentum. Über sie müssen wir individuell Auskunft verlangen und verfügen können. Der Eigentumsschutz ist die klassische Aufgabe des liberalen Rechtsstaats, die im digitalen Zeitalter neu buchstabiert werden muss. Die Waffengleichheit zwischen Nutzer und Anbieter ist zu sichern. Ein erster Meilenstein wäre diesbezüglich die europäische Datenschutzgrundverordnung. Sie würde in diesen Fragen das gemeinsame europäische Handeln stärken, unter anderem das Recht handhabbarer machen und zugleich der Europäischen Kommission die Festsetzung von Strafzahlungen erlauben, die bei Verstößen gegen den Datenschutz auch Multimilliarden-Konzerne wie Google disziplinieren könnten. Allen klugen Texten von Martin Schulz zum Trotz: Die SPD toleriert schweigend, dass Deutschland auf Betreiben der Union die Verabschiedung dieses zentralen Projekts verzögert und blockiert. Dabei wäre hier erst der Anfang zu sehen, um den „Datenkapitalismus“, von dem auch Sigmar Gabriel in dieser Zeitung geschrieben hat, marktwirtschaftlichen Regeln zu unterwerfen. Man mag den wirtschaftlichen Erfolg, die Innovationskraft und die Produkte von Unternehmen wie Google schätzen – Ludwig Erhard würde fragen, ob derart dominante Unternehmen nicht Konkurrenz verdrängen und Marktbedingungen diktieren. Nicht nur Banken benötigen öffentliche Aufsicht, wenn sie systemrelevant sind – auch kommerzielle Datenbanken. Der besonderen Aufmerksamkeit der Kartellbehörden sind die Internet- und Datengiganten jedenfalls zu empfehlen.

Drittens muss Europa seine Chance zur Innovation nutzen: Einst war die Antwort auf die Dominanz von Boeing Airbus. SDI und Microsoft setzte Europa das Esprit-Programm entgegen. Die europäische Satellitennavigation Galileo ist die Alternative zu GPS. Wo ist heute eine angemessene Initiative als Reaktion auf NSA und Google? Eine Europäische Kommission, die Kapazitäten für die vielzitierten Olivenölkännchen auf Restauranttischen hat, aber kein Projekt zur Herstellung der digitalen Autonomie Europas verfolgt, beschädigt ihre Autorität. Vom Quanten-Computer über das Ziel der globalen Marktführerschaft für Datensicherheit – am besten mit offenen und damit weltweit attraktiven Standards – bis beispielsweise zum vertrauenswürdigen Cloud-Computing gibt es viele lohnenswerte Möglichkeiten. Sie eröffnen Wachstumschancen – und leisten zugleich einen Beitrag zur notwendigen digitalen Emanzipation der Europäer. Worauf nur wartet Brüssel?

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