14.12.2019FDP

LINDNER-Gastbeitrag: Die neue Partei der Arbeit

Der FDP-Bundesvorsitzende Christian Lindner schrieb für "Die Welt" (Samstag-Ausgabe) den folgenden Gastbeitrag:
 
"Wir teilen ein gemeinsames Schicksal in der Europäischen Union. Wir stehen den gleichen Herausforderungen gegenüber: Arbeitsplätze und Wohlstand fördern, jedem einzelnen Individuum die Möglichkeit bieten, seine eigenen Potenziale zu entwickeln, soziale Ausgrenzung und Armut bekämpfen; materiellen Fortschritt, ökologische Nachhaltigkeit und unsere Verantwortung für zukünftige Generationen miteinander vereinbaren."

Diese Sätze stammen nicht von einem Liberalen. Es waren zwei Sozialdemokraten, die sie vor 20 Jahren in einem Papier aufschrieben: Die damaligen Regierungschefs Deutschlands und Großbritanniens, Gerhard Schröder und Tony Blair. In vielem lagen die beiden falsch. Zum Beispiel, als sie die Finanzmärkte so reformierten, dass das Haftungsprinzip unterlaufen werden konnte. Das trug später zur weltweiten Krise bei. Denn wirtschaftliche Freiheit und Haftung für das eigene wirtschaftliche Tun gehören untrennbar zusammen. Vieles aus dem Schröder-Blair-Papier bleibt aber richtig und wartet auf eine Aktualisierung. Nur dass der Reformgeist von damals nicht mehr bei der Sozialdemokratie zu Hause ist. 
 
Wie zuvor schon die Labour Party erlebt jetzt auch die SPD einen Linksrutsch historischen Ausmaßes. In Großbritannien hat Labour gerade eine deutliche Quittung dafür erhalten: Der linkspopulistische Kurs eines Jeremy Corbyn wurde abgestraft. Wahlkreise mit einem hohen Anteil an Arbeitern und Angestellten gingen zum ersten Mal seit 70 Jahren für Labour verloren. Ich bin überzeugt: Mit einem ähnlichen Weg gewinnt auch die SPD ihre Stammwähler in der Mitte nicht zurück. Es sind Wähler, die Schröder dreimal hintereinander die Stimme gaben und für Ergebnisse von weit über 30 Prozent sorgten. Mit ihrem neuen Linkskurs wendet die SPD sich stattdessen endgültig gegen Facharbeiter und Angestellte, für die Leistungsgerechtigkeit und Aufstiegschancen wichtige Werte sind. 
 
Die arbeitende Mitte wird all die neuen Versprechen zur Grundrente ohne echte Bedürftigkeitsprüfung, Mindestlohn und Klimapaket mit höheren Preisen, Steuern und Sozialabgaben aus eigener Tasche bezahlen müssen. Im Gegenzug wird sie nicht entlastet, trotz steigender Mieten und Zinsen an der Nulllinie. Die „neue“ SPD lässt sie im Regen stehen. Sie kreist zu sehr um die Ränder der Gesellschaft: Empfänger von Sozialleistungen auf der einen Seite und Superreiche auf der anderen Seite, denen man etwas wegnehmen will. Die Forderung nach Vermögensbesteuerung mag Neidreflexe von Juso-Funktionären bedienen. Im Zweifel aber gefährdet sie die Existenz von Familienbetrieben und damit von wertvollen Arbeitsplätzen. 
 
Wir Freie Demokraten werden damit zur ersten Adresse für Menschen aus der Mitte der Gesellschaft, die sich früher einer pragmatischen Sozialdemokratie vom Schlage eines Helmut Schmidt, Gerhard Schröder oder Wolfgang Clement verbunden fühlten. Diese Arbeitnehmer wissen, dass nur eine starke wirtschaftliche Grundlage sichere Arbeitsplätze, soziale Absicherung und gute staatliche Leistungen hervorbringen kann. Gerhard Schröder mag als „Auto-Kanzler“ verspottet worden sein. Er wusste aber, dass die Automobilindustrie mit einem Umsatz von knapp 430 Milliarden Euro der mit Abstand bedeutendste Industriezweig Deutschlands ist. Sie beschäftigt rund 850.000 Mitarbeiter, die durchschnittlich 6000 Euro brutto im Monat verdienen. Sie waren früher Kernklientel der SPD. Heute kassiert ein sozialdemokratischer Finanzminister diese Leistungsträger aus den Montagehallen ab, als wären sie Topmanager: Mit dem Spitzensteuersatz plus Solidaritätszuschlag.

Gleichzeitig erleben wir eine Klimapolitik aus dem Hause einer sozialdemokratischen Umweltministerin, die wie die 1:1-Kopie eines grünen Parteiprogramms wirkt. Die Perspektive wird auf Elektromobilität verengt, die keinen nennenswerten Beitrag zum Stopp der Erderwärmung liefert, dafür aber gute Arbeitsplätze in einer deutschen Schlüsselindustrie aufs Spiel setzt. Die Autoindustrie wird durch EU-Flottengrenzwerte gegängelt. Technologische Alternativen wie Wasserstoff oder synthetische Kraftstoffe bekommen dadurch keine Chance. Der Diesel wird durch fragwürdige Fahrverbote künstlich kaputt gemacht. Viele Menschen in der Mitte aber sind auf das Auto angewiesen und können sich den Kauf eines neuen nicht ohne weiteres leisten. Sie werden Opfer einer kalten Enteignung. Dabei hatte die Politik den Kauf von Dieselautos gerade erst als klimafreundlich beworben.

Den Mut zur notwendigen Veränderung, den Schröder aufbrachte, um Deutschland wettbewerbsfähig zu halten, sucht man heute in der linksgewendeten SPD vergebens. Allerdings trifft dies leider auch auf weite Teile der Union zu. Angela Merkel hat als Kanzlerin lange von der Reformdividende der Agenda 2010 profitiert. Diese Dividende ist verbraucht. Wir stehen vor einer Strukturkrise, die in ihrem Ausmaß mit dem Reformbedarf zu vergleichen ist, der zur Agenda 2010 führte. Um unserer deutschen Verantwortung in und für Europa gerecht zu werden, müssen wir zum Wandel im Innern bereit sein“, hatte Gerhard Schröder am 14. März 2003 im Bundestag gesagt. Ein Satz, der angesichts von Megatrends wie demografischem Wandel, Digitalisierung und Wissensexplosion aktueller ist denn je. Das Großthema Migration wird von der SPD gleich ganz ignoriert.

In den 90er-Jahren wirkten Sozialdemokraten noch an pragmatischen Lösungen mit, siehe der Asylkompromiss 1992. Heute wirken manche ihrer Vertreter so, als wollten sie die Grünen bei deren Politik der offenen Grenzen links überholen. Dabei zeigt der Erfolg der dänischen Sozialdemokraten, dass gerade deren Stammwähler eine wirksamen Kontrolle von Migration wünschen. Die neuen SPD-Vorsitzenden Saskia Esken und Norbert Walter-Borjans reden stattdessen immer neuen staatlichen Eingriffen das Wort. In Wahrheit fehlt es uns daran nicht. Das Rentenpaket der Großen Koalition zum Beispiel geht voll zu Lasten der Generation der unter 50-Jährigen. Bis 2030 werden 160 Milliarden Euro mehr ausgegeben. Die Pläne belasten einseitig die Jüngeren, leisten andererseits aber größtenteils keinen sinnvollen Beitrag zur Verhinderung von Altersarmut.

Stattdessen brauchen wir Modernisierungen, zum Beispiel einen flexiblen Renteneintritt. Speziell für Angestellte mit kleinen und mittleren Einkommen muss es attraktiv sein, jeden Monat einige Euro in die private Altersvorsorge zu investieren. Stattdessen will der SPD-Finanzminister Aktienkäufe mit einer willkürlichen Transaktionssteuer belegen. Private Vorsorge wird so noch bestraft. Bezeichnend auch die Beschlüsse zur Hartz-IV-Reform. Unsere Verfassung sieht vor, dass Deutschland ein Sozialstaat ist. Niemand wird deshalb sich selbst überlassen – anders als dies viele der tonangebenden Jusos auf dem SPD-Parteitag suggerierten. Trotzdem will die SPD das Prinzip Fördern und Fordern aufweichen. Ich meine: Wir sollten an ihm festhalten. Die Massenarbeitslosigkeit wurde so erfolgreich bekämpft. Außerdem ist Solidarität keine Einbahnstraße. Sie wird denen entgegengebracht, die auf Hilfe angewiesen sein. Sie muss aber auch für all jene gelten, die diese Leistungen bezahlen, indem sie jeden Werktag in die Fabrik oder ins Büro aufbrechen. 
 
Die Linkswende der SPD wird nicht besser dadurch, dass die Partei einen liberalen Begriff klaut und aus Hartz IV ein „Bürgergeld“ machen will. Das SPD-Bürgergeld ist Etikettenschwindel und wird zur Stilllegungsprämie. Ganz im Gegenteil sollte Leistungsgerechtigkeit auch für Geringverdiener gelten. Jeder mehrverdiente Euro muss sich auch bei ihnen auf dem Bankkonto bemerkbar machen. Hiergegen sträubt sich die SPD. Sie verkennt auch, dass gerade die Flexibilisierung auf dem Arbeitsmarkt vielen Arbeitnehmern über Mini- und Teilzeitjobs den Einstieg in eine Berufstätigkeit überhaupt erst ermöglicht hat. Wir brauchen klare Regeln auf dem Arbeitsmarkt – eine Überregulierung, die Firmen von Einstellungen abhält, brauchen wir dagegen nicht.  
 
Nicht immer neue staatliche Leistungen, sondern Bildung und Qualifikation sind Voraussetzung für sozialen Aufstieg. Gerade in Zeiten des wirtschaftlichen Wandels, wo es keinen Arbeitsplatz auf Lebenszeit mehr gibt. Auch dies ist eigentlich ein ursozialdemokratisches Thema. Leider aber sprechen die Rankingwerte SPD-regierter Länder eine andere Sprache. Heute stehen wir vor ähnlich großen Aufgaben wie zu Zeiten der sozialliberalen Koalition im Bund: Bildung muss eine lebensbegleitende Aufgabe werden, Deutschland braucht ein komplett neues zweites Bildungssystem. Die große Antwort auf die Digitalisierung kann daher nicht ein bedingungsloses Recht auf Arbeit sein, das Kevin Kühnert fordert und das mir uneinlösbar scheint. Es muss bedingungslose Grundbildung sein. Wenn Saskia Esken, eigentlich Digitalpolitikerin, dann auch noch davon spricht, die SPD solle „Betriebsrat der Digitalisierung“ sein, dann ist klar: Hier werden nicht Chancen, sondern zuerst Risiken gesehen. So wird Deutschland nicht zur Weltspitze aufschließen. 
 
„In der Vergangenheit wurde die Förderung der sozialen Gerechtigkeit manchmal mit der Forderung nach Gleichheit im Ergebnis verwechselt“, schrieben Schröder und Blair 1999 – nicht ahnend, dass die „Neue Zeit“ der SPD 20 Jahre später aus genau diesen Gespenstern der Vergangenheit bestehen würde. Doch der Blick in die Vergangenheit ist nicht zwingend. Es gibt eine Politik, die der Zukunft zugewandt ist. Es gibt eine liberale Alternative zu einer SPD, die von Kevin Kühnert mit großen Schritten irgendwo zwischen Grünen und Linkspartei positioniert wird. 
 
 
 

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