01.11.2012FDPInnenpolitik

LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER-Interview für die "Passauer Neue Presse"

Berlin. Die stellvertretende Vorsitzende der FDP und Bundesjustizministerin SABINE LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER gab der "Passauer Neuen Presse" (Donnerstag- Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellte RASMUS BUCHSTEINER:

Frage: Vor einem Jahr flog die rechte Terrorzelle NSU auf. Akten-Schredderei, fragwürdige V-Mann-Aktionen und Schuldzuweisungen zwischen Polizei und Verfassungsschutz - können Sie nachvollziehen, dass die Familien der Opfer das Vertrauen in den Rechtsstaat verloren haben?

LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER: Ja. Es schmerzt, dass die Angehörigen zum Teil jahrelang selbst im Verdacht standen, an der Mordserie beteiligt zu sein. Wer einen nahen Angehörigen verloren hat und dann selbst verdächtigt wird, hat Recht zu zweifeln. Die NSU ist eine Schande für unseren Rechtsstaat. Wir müssen die Sicherheitsarchitektur reparieren, um das Vertrauen wiederherzustellen. Personalveränderungen allein reichen nicht.

Frage: Mehrere Untersuchungsausschüsse versuchen aufzuklären - die Bilanz ist ernüchternd. Konnten die NSU-Mörder so lange schalten und walten, wie sie wollten, weil die Sicherheitsbehörden auf dem rechten Auge blind waren?

LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER: Nicht blind, vielleicht kurzsichtig. Wenn man die Aufklärung durch die Untersuchungsausschüsse genau verfolgt, kann man sich schon die Frage stellen, warum nach dem Kölner Anschlag ein rechtsradikaler Hintergrund nicht weiter verfolgt wurde oder warum die Ermittler im Zusammenhang mit der Mordwaffe nur nach "türkischen Erwerbern" fragten, statt sich aufdrängende Ermittlungsansätze zu verfolgen.

Frage: Könnte sich eine solche rechtsextreme Mordserie in Deutschland wiederholen?

LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER: Ich halte weder etwas von Panikmache noch von Verharmlosung. Es gab und gibt eine alltägliche rechtsextrem motivierte Gewalt, die sich radikalisieren kann. Das dürfen wir nicht unterschätzen. Wie groß die Zahl gewaltbereiter Rechtsextremisten ist, kann ich als Justizministerin nur schwer einschätzen, trotz aller Statistiken von Polizei und Verfassungsschutz. Neben der gewaltbereiten Szene müssen wir uns auch fragen: Nehmen fremdenfeindliche und rassistische Einstellungen zu? Denken Sie auch an die jüngsten Übergriffe gegen jüdische Mitbürger in Berlin oder dass aus dem Taxi geworfen wird, wer als Ziel eine Synagoge angibt. Da hilft es nicht, nur nach der Polizei oder dem Verfassungsschutz zu schauen. Der Rechtsextremismus
spannt Netzwerke bis in die Mitte der Gesellschaft auf.

Frage: Muss die deutsche Sicherheitsarchitektur grundlegend umgebaut werden?

LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER: Wann, wenn nicht jetzt, nach diesem Desaster, muss eine Verbesserung der Sicherheitsarchitektur erfolgen? Es gibt offensichtlich Probleme, die durch die föderale Sicherheitsarchitektur entstehen. Die Dienste werden zu wenig parlamentarisch und vielleicht auch zu wenig exekutiv kontrolliert. Neben der Verbesserung der Kontrolle muss eine Konzentration erfolgen. Die Landesämter für Verfassungsschutz müssen konzentriert und die Aufgaben des MAD auf die anderen Dienste übertragen werden. Außerdem müssen V-Leute restriktiver angeworben und enger geführt werden. Am Ende werden hier auch andere gesetzliche Regeln stehen müssen. In wenigen Wochen sollte die gemeinsame Kommission des Bundes von
Justiz- und Innenministerium ihre Arbeit aufnehmen.

Frage: In wenigen Tagen soll Anklage gegen Beate Zschäpe und Helfer der Zwickauer Zelle erhoben werden. Es wird das wohl aufwändigste Terrorverfahren der letzten Jahrzehnte. Was erwarten Sie von dem Prozess?

LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER: Die Täter werden vom Rechtsstaat zur Verantwortung gezogen. Für die Opfer ist das von großer Bedeutung, dadurch kann Vertrauen in unseren Rechtsstaat wieder hergestellt werden. Neben der rechtsstaatlichen Aufarbeitung durch einen Strafprozess erwarten die Angehörigen vor allem Aufklärung durch den Untersuchungssausschuss. Wie kam es zu dieser jahrelangen Mordserie und zu dem Versagen von Polizei und Diensten?

Frage: Angesichts der NSU-Morde - wie beurteilen Sie die Chancen für ein neues NPD- Verbotsverfahren ?

LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER: Wenn die Innenminister von Bund und Ländern gemeinsam zu dem Ergebnis kommen, sie können die NPD verbieten, darf eines nicht geschehen: Es darf nicht der Eindruck entstehen, mit einem Verbotsverfahren hätte die Demokratie ihre Pflicht getan. NPD-Funktionäre sagen ganz offen: Wenn wir verboten werden, dann machen wir anders weiter. Gegen die NPD brauchen wir vor allem gesellschaftliches Engagement. Ein zweites Scheitern eines Verbotsantrags würde der NPD aber sogar noch nutzen und der Demokratie immensen Schaden zufügen. Nicht nur das Bundesverfassungsgericht wird ein Verbot kritisch unter die Lupe nehmen, sondern womöglich auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mit
eigenen rechtlichen Standards. Man kann hier gar nicht sorgfältig genug vorgehen.

Frage: Themenwechsel: Der türkische Premier Recep Tayyip Erdogan drängt weiter auf eine EU-Vollmitgliedschaft seines Landes. Gehört die Türkei in die Europäische Union?

LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER: Es liegt im strategischen Interesse Europas, dass sich die Türkei weiterhin dauerhaft Richtung EU orientiert. Die Beitrittsverhandlungen sollten weiter offen geführt werden. Die Türkei hat viele rechtsstaatliche Fortschritte durch ihre Justizreformen gemacht. Aber es gibt nach wie vor deutliche Defizite bei Presse- und Meinungsfreiheit.

Frage: Wie groß sind diese rechtsstaatlichen Defizite?

LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER: Es gibt Massenprozesse gegen Anwälte und Journalisten, die auch die EU kritisiert. Im Bereich der Pressefreiheit spricht der EU-Fortschrittsbericht von erheblichen Problemen. Dieses Jahr sollen wesentlich mehr Journalisten in der Türkei verhaftet worden sein. Ein anderes Problem ist die teilweise überlange Dauer der Untersuchungshaft.

Frage: Nun zur Berliner Koalition: Schwarz- Gelb will bei einem Spitzentreffen zentrale Konflikte ausräumen. Betreuungsgeld gegen Praxisgebühr, Renten-Zuschüsse für Geringverdiener gegen Entlastungen für Stromverbraucher - wird es ein großer Kuhhandel?

LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER: Nein, es gibt keinen Kuhhandel, es geht darum, offene Fragen zu lösen - wie die Entlastung der Bürger und die Abschaffung der Praxisgebühr, Konzepte zur Weiterentwicklung des Rentensystems. Ich bin zuversichtlich, dass eine Verständigung in der Sache gelingen wird.

Frage: Bleibt es dabei, dass die FDP dem Betreuungsgeld am Ende zustimmen wird?

LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER: Es ist ja offensichtlich, dass das Betreuungsgeld keine Herzensangelegenheit der FDP ist. Es gibt Verabredungen in der Koalition. In einer Koalition muss man offen über den Sinn von Projekten einzelner Partner reden können, auch über die Finanzierbarkeit. Man darf sich streiten, aber am Ende muss eine Einigung
stehen.

Frage: Neue Bündnisoptionen statt schwarz-gelber Nibelungentreue - was spricht gegen die Ampel als Koalitionsalternative nach der Bundestagswahl?

LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER: Die FDP hat in dieser schwarz-gelben Koalition für die Renaissance der Bürgerrechte gesorgt. Uns ist es zu verdanken, dass die Internetsperren passé sind. Ich habe eine Alternative zur Vorratsdatenspeicherung vorgelegt. Die Antiterrorgesetze wurden erstmals grundlegend auf den Prüfstand gestellt. Schwarz-Gelb hat die grundrechtsblinde Politik von Otto Schily nach dem 11. September 2001 beendet. Die SPD hat anscheinend nicht die Kraft, diesen Kurs zu korrigieren. Auch das spricht dafür, sich in keinerlei Koalitionsspekulationen zu begeben - neben vielem anderen, zum Beispiel dem Festhalten der SPD an Eurobonds.

Frage: Nach der CSU-Medienaffäre und angesichts des Streits um Studiengebühren: Was eint die schwarz-gelbe Koalition in Bayern eigentlich noch?

LEUTHEUSSER-SCHNARRENBERGER: Bayern hat es gut getan, dass die Alleinherrschaft der CSU beendet wurde. Schwarz-Gelb hat in Bildung investiert, hat neue Polizeistellen geschaffen und den Staatshaushalt auf einen guten Weg gebracht. Die FDP hat dafür gesorgt, dass der umstrittene Staatstrojaner in Bayern nicht mehr zum Einsatz kommt. Und bei den Studiengebühren gehen wir den unbequemen Weg. Die FDP hält an Studiengebühren fest. Das ist auch eine Gerechtigkeitsfrage. Diejenigen, die später durch das Studium mehr verdienen können als andere, leisten dadurch auch einen Beitrag. Und: Die CSU muss ihr Verhältnis zur Macht in einer Demokratie klären, insbesondere ihr Verständnis von Pressefreiheit. Die bayerische FDP mahnt umfassende Aufklärung an.

Social Media Button