LAMBSDORFF-Interview: Erst einmal abwarten, was real geschieht
Berlin. Das FDP-Präsidiumsmitglied und Vizepräsident des Europäischen Parlaments ALEXANDER GRAF LAMBSDORFF gab der „Eßlinger Zeitung“ (Montag-Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellte ANDREAS HERHOLZ:
Frage: Der EU-Türkei-Plan steht. Ist das Abkommen der Durchbruch zur Lösung der Flüchtlingskrise?
LAMBSDORFF: Nein, dafür sind einfach noch zu viele Fragen offen. Es ist völlig unklar, ob die anderen Europäer dieses Mal wirklich mitziehen. Und selbst wenn, ginge es nur um 72 000 Flüchtlinge, dann kommt die gesamte Vereinbarung noch einmal auf den Prüfstand, dabei sind alleine in der Türkei 2,5 Millionen Schutzsuchende untergekommen. Hinzu kommt, dass die Situation in Syrien noch immer nicht stabilisiert ist. Und schließlich ist völlig klar, dass mit dem beginnenden Frühling wieder mehr Flüchtlinge versuchen werden, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen.
Frage: Kann man wirklich von einer europäischen Lösung sprechen?
LAMBSDORFF: Dieses Mal haben sich zumindest alle EU-Länder hinter einer Lösung versammelt. Und es soll eine schnelle Eingreiftruppe geben, die auf den griechischen Inseln bei der Registrierung der Flüchtlinge hilft. Das ist exakt, was die Freien Demokraten in Brüssel und Berlin vor Monaten schon gefordert haben. Es liegt doch auf der Hand, dass Griechenland alleine die große Zahl von Menschen nicht angemessen betreuen kann.
Frage: Welche Probleme erwarten Sie bei der Umsetzung?
LAMBSDORFF: Der vereinbarte Text spricht wieder nur von Freiwilligkeit bei der Verteilung der Flüchtlinge. Damit haben wir schlechte Erfahrungen gemacht. Besonders Viktor Orban in Ungarn hat auch schon erklärt, dass er niemanden aufnehmen will. Insofern müssen wir erst einmal abwarten, was real geschieht. Papier ist ja bekanntlich geduldig.
Frage: Experten halten die Regelung für völkerrechtswidrig. Teilen Sie diese Bedenken?
LAMBSDORFF: Ich teile diese Bedenken nicht. Diese so genannten Experten verlangen von der Türkei einerseits, ihre Grenze zu Syrien zu öffnen, damit die Menschen in Sicherheit gelangen können. Auf der anderen Seite behaupten Sie aber, dass, wer von einer griechischen Insel zurückgeschickt wird, in der Türkei gerade nicht in Sicherheit sei. Das passt nicht zusammen. Zumal ja eine Einzelfallprüfung für Asylbewerber nach wie vor durchgeführt wird.
Frage: Ist Ankara ein verlässlicher Partner, oder macht sich die EU erpressbar?
LAMBSDORFF: Ob Ankara in der Flüchtlingsfrage verlässlich ist oder nicht, wird sich in den nächsten Wochen zeigen. Zurzeit ist aber völlig klar, dass die EU in einer schwierigen Verhandlungsposition ist. Dafür reicht ein Blick auf die Landkarte: Zwischen Syrien und uns liegt nur ein einziges Land und das ist die Türkei.
Frage: Drücken die EU-Partner beim Thema Menschenrechte und Pressefreiheit beide Augen zu? Kann die Türkei Mitglied der EU werden?
LAMBSDORFF: Bei allem Verständnis für pragmatische Zusammenarbeit fand ich es hochgradig geschmacklos, dass die Bundeskanzlerin kurz vor den Wahlen in der Türkei Herrn Erdogan ihre Aufwartung gemacht hatte. Das war die beste Wahlkampfhilfe für einen Präsidenten, der Bürgerrechte wie Meinungs- und Pressefreiheit mit Füßen tritt. Für uns als Liberale sind aber gerade diese Werte unverhandelbar. Insofern sehen wir zurzeit nicht die geringste Chance für die Türkei, Mitglied der EU zu werden.