KUBICKI/JASCHKE-Streitgespräch: Die schlimme Fratze der Religion
Berlin. Der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende WOLFGANG KUBICKI und der Weihbischof HANS-JOCHEN JASCHKE im Streitgespräch für die „Welt am Sonntag“. Die Fragen stellte JANA WERNER:
Frage: Herr Jaschke, was dürfen Menschen alles mit der Religion begründen?
JASCHKE: Religion und Glaube sind die private Entscheidung eines Menschen. Wenn Religion die öffentliche Ordnung betrifft, ist sie in diese eingebunden. Religion hält sich an die Gesetze. Es gibt keinen rechtsfreien Raum für die Religion. Wir haben gerade im Christentum die Unterscheidung von Kirche und Staat. Es gibt keine göttliche Ordnung, die in den Staat hineinwirkt. Das unterscheidet das Christentum vom Islam. Das Christentum ist keine politische Ordnung.
KUBICKI: Das behauptet das Christentum. Religionen versuchen aber immer wieder, Einfluss auszuüben.
JASCHKE: Natürlich wirkt Religion in die Gesellschaft hinein. Der Islam indes ist auch eine politische und gesamtmenschliche Ordnung, die etwa über die Scharia Kriterien für die Rechtsprechung vorgibt. Das ist im Christentum anders.
Frage: Herr Kubicki, dass Religion Privatsache ist, dürfte Ihnen gefallen.
KUBICKI: Religion ist Privatsache. Der Staat ist laut Verfassung zur Neutralität verpflichtet. Er muss aber gewährleisten, dass Religion praktiziert werden kann. Gleichwohl gibt es eine negative Religionsfreiheit, denn niemand darf verpflichtet werden, sich religiösen Riten zu unterwerfen. Der Staat hat darauf zu achten, dass das Gemeinschaftsleben funktioniert.
JASCHKE: Dem stimme ich zu. Religion kann nur im Raum der Freiheit wachsen. Ein erzwungener Glaube kann kein Glaube sein. Das müssen auch die Christen immer neu lernen. Religion und Freiheit brauchen einander, auch die Freiheit, nicht zu glauben.
KUBICKI: Kirchenlehre grenzt die freie Entscheidung ein, indem Regeln vorgeschrieben werden. Wir haben verschiedene Religionen mit verschiedenen Ausprägungen und internen Kontrollmechanismen, die auch gegen staatliche Verfassungsgrundsätze laufen. Gleichzeitig ist hinzunehmen, dass Akte vollzogen werden, die mit unserer Rechtsordnung nur schwer vereinbar sind.
Frage: Religiöse Riten wie Beschneidung im Namen des Herrn kollidieren mit deutschen Gesetzen. Geduldet werden sie dennoch.
KUBICKI: Das Verfassungsrecht erlaubt der Religion die Gestaltung der Religionsausübung. Dazu gibt es Urteile des Bundesverfassungsgerichts etwa zur Schächtung und Beschneidung. Die Beschneidung ist eine Körperverletzung, hat das Landgericht Köln entschieden. Kinder können eine Einwilligung in diese Verletzungshandlung nicht geben. Zudem ist die Beschneidung medizinisch überflüssig und daher eine Verletzungshandlung, die nur im Rahmen der Religionsausübung toleriert wird.
JASCHKE: Dieses Urteil ist kassiert worden.
KUBICKI: Nein. Der Gesetzgeber hat einen neuen Paragrafen in das Bürgerliche Gesetzbuch eingeführt. Hoch umstritten. Die Durchführung der Beschneidung durch nicht-medizinisches Personal dürfte verfassungswidrig sein, die Entscheidung steht noch aus. Hier ist der Gesetzgeber deshalb eingeschritten, weil wir aufgrund unserer geschichtlichen Erfahrungen Menschen jüdischen Glaubens nicht verbieten wollten, ihre Kinder zu beschneiden.
JASCHKE: Die Beschneidung ist nicht irgendein religiöses Gesetz, sondern ein uraltes religiöses Brauchtum. Hier geht es um menschliche Kultur mit tiefen Wurzeln. Es ist ein Wesensmerkmal für Muslime und Juden. Wenn wir keinen Weg finden, damit vernünftig umzugehen, bekommt uns das nicht.
KUBICKI: Brauchtum ist keine ausreichende rechtliche Grundlage. Im Rahmen unserer gesellschaftlichen Entwicklung frage ich mich, ob man diese Form des Brauchtums dauerhaft akzeptieren muss. Ich halte es für grenzwertig. Auch ein Kind muss entscheiden können, ob es sich der Religion unterwerfen möchte oder nicht. Die Genitalverstümmelung von Frauen, die wir ebenfalls nicht zulassen, ist auch ein Brauchtum.
JASCHKE: Die Beschneidung von Mädchen ist etwas völlig anderes, eine brutale Verletzung. Vernünftige Religionen müssen das entschieden ablehnen. Die Beschneidung von Männern ist medizinisch neutral. Es ist eine Tradition, die Eltern für ihr Kind entscheiden. Hier sehe ich keine Grenze. Ich sehe die Grenze, wenn die Beschneidung nicht fachmännisch ausgeführt, wenn einem Kind Schaden zugeführt wird und wenn man weiß, dass es nicht im Sinne des Kindes sein kann.
Frage: Die Summe von religiösen Riten kann zu Parallelgesellschaften führen.
KUBICKI: Das Bundesverfassungsgericht hat 2014 ein Urteil zum hessischen Schulgesetz getroffen und erklärt, dass es ein Gemeinschaftsinteresse daran gibt, dass es keine Parallelgesellschaften gibt – weder aus weltanschaulichen noch aus religiösen Gründen. Jede einzelne Religionsausübung mag unter Artikel 4 des Grundgesetzes gerechtfertigt sein. Beginnt jedoch die Summe den inneren Frieden zu stören, wird die Rechtsprechung darauf reagieren. Das erleben wir gerade am Beispiel Burka.
JASCHKE: Wir reden jetzt aber nicht von der Summe, wir reden von der Beschneidung oder vom Schächten. Entscheidende Fragen für Muslime und Juden. Damit ist noch keine Parallelgesellschaft begründet. Eine Gesellschaft wie die unsere hat ein Interesse daran und die Pflicht, dass alle in ihr Leben können und sich respektieren.
Frage: Mit dem Unterschied, dass die Religionsausübung von Christen meist im Kopf stattfindet. Muslime tragen ihren Glauben häufiger nach außen.
JASCHKE: Zur Religion gehört das äußere Gewand. Wenn jemand seine Religion aggressiv nach außen trägt, andere damit verletzt oder beleidigt, dann ist das in einer gesellschaftlichen Ordnung nicht legitim. Ist eine Burka eine aggressive Zurschaustellung der Religion? Manche fühlen sich verletzt, wenn sie das Gesicht des anderen nicht sehen. Ich wünsche mir, dass die Geistlichen ihre Gläubigen zu größerer Freiheit und angemessener Rücksichtnahme führen.
KUBICKI: Zur Religionsausübung gehört auch das öffentliche Bekenntnis. Christen tragen Kreuze, Muslime Kopftücher. Der Angriffspunkt besteht jedoch dann, wenn Fundamente des menschlichen Zusammenlebens tangiert werden. Wir sind es in Deutschland und Westeuropa gewohnt, dass wir uns ins Gesicht schauen können. Solange nur fünf Menschen verschleiert herumlaufen, spielt das keine Rolle. Würde das massenhaft auftreten, würde das die gesellschaftliche Ordnung beeinträchtigen. Dann müssten wir andere rechtliche Regeln ergreifen. Es passt nicht, dass Bundesinnenminister Thomas de Maizière die Gesichtserkennung ausweiten möchte, ein Burka-Verbot aber ablehnt. Die Rechtsprechung in dieser Frage wird sich ändern. Ich wünsche mir, dass wir die Gesichtsverschleierung im öffentlichen Bereich für unzulässig erklären.
JASCHKE: Laut Innenminister wird ein Burka-Verbot rechtlich nicht durchzusetzen sein.
KUBICKI: Derzeit nicht. Das Verwaltungsgericht Osnabrück hat den Ausschluss einer vollverschleierten Schülerin aus dem Unterricht für zutreffend erklärt. Das halte ich für sinnvoll.
JASCHKE: Müssen wir nicht auch mit Augenmaß die richtigen Lösungen finden? Wir können nicht alles gesetzlich regeln. Ich erwarte, dass Mitglieder anderer Religionen von der Mehrheit der Bevölkerung toleriert werden, uns aber auch nicht vor den Kopf stoßen.
KUBICKI: Der Islam schreibt das Tragen der Burka nicht vor. Es ist nur üblich in Ländern wie Pakistan oder Afghanistan. Dies darf aber nicht dazu führen, dass fundamentale Grundsätze unseres Zusammenlebens verletzt werden.
JASCHKE: Wir brauchen einen klugen Umgang miteinander. Keine Kleidungsverbote, die nur Widerstand provozieren! Wir müssen darauf achten, wo die Grenzen liegen.
Frage: Wo die Grenzen liegen, daran entzündet sich die Debatte hierzulande.
KUBICKI: Anders als vor 100 Jahren gibt es keine Dominanz einer Religion mehr. Wir sind multireligiös geworden. In Deutschland leben heute vier Millionen Menschen muslimischen Glaubens, stetig anwachsend. Weil die Gesellschaft sehr plural geworden ist, wehrt sie sich gegen den Anspruch von Gruppierungen, das Leben bestimmen zu wollen. Das ist derzeit der Fall bei Menschen muslimischen Glaubens, die anders gekleidet sind als wir. Auch bei Salafisten, die auf der Straße Korane verteilen, entsteht der Eindruck, dass missioniert werden soll – allerdings auf eine Art, die nicht zur Befreiung, sondern zur Unterdrückung von Menschen führt.
JASCHKE: Religion hat aber auch ihre Öffentlichkeit. Wenn eine Mehrheit der Bevölkerung einer Religion angehört, gehört dazu eine entsprechende Kultur. Das müssen wir in einer freien Gesellschaft ausgleichen, indem wir Religionen schützen. Religion darf nicht dominieren, den Staat und die Gesellschaft als Mittel für ihre Ziele missbrauchen. Wenn Terror ausgeübt wird, muss das streng verboten sein.
Frage: Wir sind wieder im Graubereich.
KUBICKI: Es gibt Menschen, die Mehrfachehen toll finden, im Islam oder bei den Mormonen. Doch selbst wenn 70 Prozent der Deutschen Mormonen wären, wäre ich dagegen, dass jeder Mann vier Frauen haben dürfte. Auch die Frage der Kinderehen ist ein Problem: Unsere Rechtsordnung akzeptiert andere Rechtsordnungen. Doch liegt eine Kindeswohlgefährdung bei Eheschließungen von Mädchen unter 14 Jahren so offen auf dem Tisch, dass man sich fragen muss, ob das nicht gegen unsere Rechtsordnung verstößt. Hat ein Deutscher mit einer 13-Jährigen Sex, geht er in den Knast. Taucht hier ein Syrer mit einer zwangsverheirateten 13-Jährigen auf, akzeptieren wir deren Eheschließung. Das kann nicht richtig sein.
JASCHKE: Ich gebe Ihnen recht. Es darf keine religiösen Sondergesetze geben, die in die Rechte der Menschen eingreift. Es gibt die schlimme Fratze der Religion. Die Kirche aber hat unserem Abendland doch sehr gut getan. Religion ist etwas Schönes. Religion darf nicht zur Ideologie werden, muss in die Freiheit führen.
Frage: Das christliche Abendland ist bereit, Andersgläubige zu tolerieren. Dem Islam wird diese Toleranz abgesprochen. Wie können wir unter diesen Voraussetzungen miteinander leben?
JASCHKE: Religionen hierzulande üben sich in Dialog. Wir versuchen, das Gemeinsame zu erkennen und die Menschen zum friedlichen Miteinander zu bewegen. Was in Deutschland und der Welt geschieht, was vom Papst und anderen religiösen Führern gesagt wird, hat noch zu wenige Auswirkungen.
KUBICKI: Die einzige Chance, neben dem Dialog, ist die Durchsetzung der verfassungsmäßigen Ordnung. Wir dürfen das Recht nicht aus falsch verstandener Rücksichtnahme unterschiedlich anwenden. Sonst wird es willkürlich.
JASCHKE: Aber das ist nicht die Frage für Deutschland. Wir gehen davon aus, dass das Recht hier angewendet wird. Es kann geregelte Ausnahmen wie bei der Beschneidung und Schächtung geben. Aber Recht muss durchgesetzt werden und für alle gelten.
KUBICKI: Es ist aber wichtig, herauszufiltern, was noch akzeptabel ist. Ist es richtig, dass wir zulassen, dass von dem Bildungsauftrag des Gemeinwesens abgewichen wird, indem muslimische Mädchen nicht am gemeinsamen Unterricht teilnehmen? Die Rechtsordnung beginnt sich zu wandeln. Es wird nämlich klar, dass ein friedliches Zusammenleben auf Dauer nicht möglich sein wird, wenn man diese Form der Separierung zulässt. Die Burka-Diskussion ist eine Phantom-Diskussion, aber das Problem dahinter ist wichtig: Wann tritt der Fall ein, dass sich eine Parallelgesellschaft entwickelt? Menschen, die eine Frau zum Verschleiern auffordern, können wir uns heute schon rechtlich entgegenstellen. Das muss verstärkt werden. Denn dieses Rollenverständnis von Mann und Frau entspricht nicht dem Bild des Grundgesetzes.
JASCHKE: Es braucht aber auch eine Elastizität untereinander. In bin dagegen, wenn Eltern ihr Kind nicht zum Sportunterricht lassen. Aber können wir dessen Teilnahme erzwingen? Können wir nicht Ausnahmen finden? Wir müssen die Eltern gewinnen. Üben wir zu viel Druck auf sie aus, erreichen wir das Gegenteil.
KUBICKI: Im Einzelfall schon. Wird es aber zur Regel, dass muslimische Mädchen nicht mit anderen Kindern unterrichtet werden, dann nicht mehr. Noch haben sich keine Parallelgesellschaften gebildet. Aber wenn in ein paar Jahren acht oder zehn Millionen Muslime in Deutschland leben, könnte sich eine solche Tendenz entwickeln. Unser Gemeinwesen darf es nicht zulassen, dass eine parallele Rechtsordnung wie die Scharia existiert. Wir müssen auch durchsetzen, dass Respekt keine Einbahnstraße ist. Etwas mehr Konsequenz auf unserer Seite und etwas mehr Toleranz auf der anderen wird dazu führen, dass die Konflikte eher abnehmen.
Frage: Das Gefühl, so scheint es, ist gegenwärtig eher ein anderes.
JASCHKE: Wenn wir andere in die Ecke drängen, wird die Konfliktlage eher verschärft. Lernen wir, geduldig miteinander umzugehen. Muslime leben oft in einer Art Minderwertigkeitskomplex. Dann neigt man dazu, hart zu reagieren und an Unsinnigem festzuhalten. Ich setze auf Lernprozesse, insbesondere bei jungen Menschen.
KUBICKI: Mich stressen im Moment rechtsradikale, völkisch-denkende Menschen viel mehr als ein paar durchgeknallte Muslime. Wir haben schlimmere durchgeknallte deutsche Staatsbürger. Problematisch daran ist, dass man sich daran hochschaukeln kann. Gleichzeitig macht mich wieder etwas ruhiger, dass unsere Gesellschaft eine eigene Diskussionskultur entwickelt hat. Das sucht weltweit ihres gleichen und erlaubt es, ein Problem zu diskutieren und Lösungen zu finden, die für 98 Prozent der Menschen tragbar sind. Je länger wir über die unterschiedliche Ausübung von Religionen debattieren, desto mehr wird sich das Problem relativieren.