07.01.2016FDPInnen

KUBICKI-Gastbeitrag: Wir können den Rechtsstaat nicht an- und ausschalten

Berlin. Der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende WOLFGANG KUBICKI schrieb für „Focus Online“ den folgenden Gastbeitrag:

So viel parteiübergreifender Konsens ist selten: Nach den brutalen und widerwärtigen Angriffen auf Mädchen und Frauen in Köln, Hamburg und Stuttgart in der Silvesternacht waren sich nahezu alle politischen Akteure schnell einig, dass eine unmissverständliche staatliche Reaktion folgen müsse. Während der grüne Co-Chef Cem Özdemir erklärte, diese Taten müssten mit der „ganzen Härte des Gesetzes“ verfolgt werden, forderte SPD-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft ein Abschieben der Täter. Und auch die Bundeskanzlerin sicherte allen Opfern der schrecklichen Übergriffe eine „harte Antwort des Rechtsstaates“ zu.

All diese einträchtig vorgebrachten – und ja auch von politisch links Positionierten geradezu breitbeinig intonierten – Forderungen sind zunächst einmal richtig. So sehr sie auch symbolisch durchaus Sinn ergeben und den Opfern zeigen sollen „Ihr seid nicht allein“, sind sie vom inhaltlichen Standpunkt betrachtet aber eher überflüssig.

Denn: Sollte es in einem Rechtsstaat nicht eine Selbstverständlichkeit sein, dass Straftaten grundsätzlich „mit aller Härte des Gesetzes“ verfolgt werden? Wie denn sonst? Und wenn wir voraussetzen, dass die „harte Antwort des Rechtsstaates“ bei jeder Straftat folgen müsse, dann bleibt das nun demonstrierte, kräftige Hauen auf den Stammtisch letztlich blanke Symbolpolitik – die das zugrundeliegende Problem jedenfalls nicht löst.

Die Tatsache, dass führende Politiker nun meinen betonen zu müssen, in Deutschland herrsche „Law and Order“, sollte uns tatsächlich Sorge bereiten. Denn gleichzeitig kann dies nur bedeuten: Die flächendeckende Einhaltung von Recht und Gesetz war vor den Silvester-Attacken nicht zweifelsfrei gesichert. Und zu dieser Einschätzung gibt es durchaus Anlass.

Schauen wir uns den bisherigen politischen Umgang mit der Flüchtlingsproblematik an, so müssen wir feststellen, dass zuvor in Deutschland für jedermann gültige Rechtsnormen plötzlich unbeachtet gelassen werden. Begründet wird dies zumeist mit „Humanität“ – so, als seien die geltenden Normen eigentlich gegen Menschen gerichtet. Das ist eine bemerkenswerte Erklärung.

Solch merkwürdige Ausprägungen zeigten sich zum Beispiel beim vielfach behördlich betriebenen Hinwegsetzen über baurechtliche Normen beim Aufbau von Erstaufnahmeeinrichtungen. Sie zeigten sich auch in dem Entschluss der Deutschen Bahn, von Menschen keine Kostenerstattung für die Bahnreise zu verlangen, wenn sie glaubhaft machen können, dass sie Flüchtlinge sind.

Und dieses Verhalten kulminierte gewissermaßen in der Ankündigung der Bundeskanzlerin, Deutschland sehe sich aus humanitären Gründen moralisch genötigt, sogar Europarecht zu brechen und damit Flüchtlingen aus aller Welt unterschiedslos die Arme auszubreiten.

Für den Rechtsstaat sind solche moralischen Kategorisierungen fatal. Wenn nämlich moralische Gründe dafür herangezogen werden, sich über Recht und Gesetz setzen zu dürfen, dann verliert der Rechtsstaat sein Fundament. Recht gilt für alle – oder für keinen. Dann muss man die Norm ändern oder abschaffen.

Wenn aber Moral über die Einhaltung von (geltenden) Rechtsnormen letztinstanzlich entscheidet, dann regiert die Willkür. Denn wer glaubt ernsthaft, dass die moralischen Vorstellungen des Nachbarn exakt die gleichen sind wie die eigenen? Und warum sollte sich ein Bürger an Gesetze halten, wenn der Staat willkürlich selbst welche bricht?

Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker ist in diesem Zusammenhang für ihre „Verhaltensanweisungen für Frauen“ im öffentlichen Raum richtigerweise kritisiert worden. Denn hiermit würde unsere Gesellschaft vor einem männerdominierten Weltbild einknicken, vor dem sich viele Frauen zu Recht fürchten – und dies nur, weil Kritik an dem Verhalten der aus Nordafrika beziehungsweise dem arabischen Raum stammenden Männer Frau Reker in eine schwierige moralische Situation bringt?

Die Gewährung und Bewahrung von größtmöglicher Freiheit ist genau das Gegenteil. Eine Bedingung unserer Freiheit ist also, dass wir diesem rückständigen Weltbild frau- und mannhaft die Stirn bieten. Einschüchterung, Belästigung und Unterdrückung von Frauen darf und kann niemals Teil unserer freiheitlichen Gesellschaftsordnung sein. Es ist demnach auch unsere Pflicht, mit welchem Motiv auch immer begründete Parallelgesellschaften mit allen rechtsstaatlichen Mitteln zu begegnen.

Vor diesem Hintergrund ist es äußerst interessant, dass sich gerade die Grünen nach den Silvesterattacken als Lordsiegelbewahrer des Rechtsstaates gerieren. Es war vor einigen Monaten noch die Spitzen-Grüne Renate Künast, die in allem Ernst von Polizeibeamten verlangte, vor einem Einsatz in einem von Muslimen bewohnten Haus die Schuhe auszuziehen – aus Rücksicht auf die Riten des Islam. Hier sollten sich die staatlichen Organe im Einsatz für den Rechtsstaat noch anderen Erwägungen unterwerfen.

Aber nicht nur für die Grünen stellt sich aktuell die Glaubwürdigkeitsfrage. Auch die Bundeskanzlerin muss erklären, warum jetzt die Einhaltung von Gesetzen außerhalb jeder Diskussion steht, sie sich selbst aber noch vor wenigen Monaten über „Dublin III“ hinweggesetzt hat. Gerade diejenigen, die in den vergangenen Monaten eine angeblich höherwertige Moral über alles gestellt haben und sich dafür feiern lassen wollten, dass sie für „die gute Sache“ Recht brechen, sind heute schlechte Leumundszeugen für den Rechtsstaat.

Ein bisschen Rechtsstaat gibt es nicht. Man kann ihn nicht anlassbezogen an- und ausschalten, wie es beliebt. Nur wenn der Rechtsstaat in jeder Situation für jedermann gilt, kann gesellschaftliche Freiheit und Humanität bewahrt werden. Das müssen sicherlich die Grünen, erschreckenderweise muss das aber auch die Bundeskanzlerin offenbar noch lernen.

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