KUBICKI-Gastbeitrag: Schluss mit den Scheindebatten - es geht um Größeres!
Der stellvertretende FDP-Bundesvorsitzende Wolfgang Kubicki schrieb für „WELTplus“ (heute) den folgenden Gastbeitrag:
Angst ist derzeit die Triebfeder einer außerordentlich hektisch geführten Debatte, die sich seit dem Tötungsdelikt und den darauf folgenden rechtsradikalen Ausschreitungen in Chemnitz intensiviert hat. Das Bundesland Sachsen wird zum Synonym für rechtsfreie
Räume, für Polizeiversagen, fragwürdiges rechtsstaatliches Verhalten von Behörden und rechten Radikalismus. Und so heißt es jetzt in Zeitungskommentaren furchtsam: "Sachsen ist überall." Wir bräuchten dringend einen "Aufstand der Anständigen", um dem braunen Mob zu zeigen, dass er falsch liegt und nicht Deutschland repräsentiert. Die bange Rastlosigkeit in der sonnengeplagten Bundeshauptstadt auf die Spitze treibend, wird schließlich die demokratische Gesinnung gestandener Demokraten anhand von arg verkürzten Zeitungsüberschriften ernsthaft infrage gestellt.
Wer der tief greifenden Frustration, die sich in weiten Teilen der ostdeutschen Bundesländer in Form von AfD-Unterstützung Bahn bricht, eine weniger eindimensionale Erklärung zu geben versucht, muss in der Regel nicht lange warten, um den Rassismusvorwurf auf dem Tablett präsentiert zu bekommen. Zunächst einmal ist festzuhalten, dass das öffentliche Einfordern politischen Anstands eine durchaus legitime und häufig geübte Form der politischen Öffentlichkeitsarbeit ist. So ließ sich zum Beispiel die aussichtslos wahlkämpfende sozialdemokratische Spitzenkandidatin in Bayern vor einem entsprechenden Slogan ablichten. Hierbei müssen wir aber beachten, dass die in einem "Aufstand der Anständigen" präsentierte Einigkeit zu einer überschießenden Handlung verleiten kann.
Denn die Einigkeit im Grundsatz für unsere demokratischen Werte bedeutet nicht, dass die vollkommene Harmonie in der individuellen Bewertung einzelner Punkte vorliegen muss. Wir sollten also nicht in einen Wettlauf eintreten, wer der "noch bessere" Demokrat ist, der "noch anständiger" gegen Radikalismus eintritt. Denn ein solcher Wettstreit verleitet manch einen dazu, die richtige Gesinnung desjenigen infrage zu stellen, der sich trotz hektischer Debatte das Recht herausnimmt, eine eigene, individuelle Einschätzung vorzunehmen, die sich - wohlgemerkt - eindeutig im Rahmen des Zulässigen bewegt. So tragen Demokraten mitunter selbst bei, die bereits giftige Auseinandersetzung noch weiter zu vergiften.
Meinungspluralismus darf nicht zum Haltungsdualismus verkommen. Auch aus Bayern hören wir von der grünen Kandidatin, man führe aktuell einen "Haltungswahlkampf". Nachvollziehbar ist es schon, der bisweilen ins Pöbelige abgleitenden Diskussionskultur ein griffiges Wort entgegenzusetzen. Problematisch ist allerdings, dass a) niemand genau definieren kann, was gesamtgesellschaftlich die "richtige" Haltung für alle wäre, und dass b) Haltung bisher noch kein Problem gelöst hat. So wirkt das Einfordern von Haltung am Ende bedauerlicherweise ziemlich hilflos, weil niemand mehr dazu aufgerufen ist, der Haltung eine entsprechende Handlung folgen zu lassen. Dass wir gerade am Chemnitzer Exempel dargestellt bekommen, dass wir auf ein gravierendes Demokratieproblem in Teilen Ostdeutschlands zusteuern könnten, darf uns nicht davon abhalten, über die Ursachen dieser Entwicklung ernsthaft zu debattieren.
Wir treffen in einigen Gebieten auf eine brandgefährliche Melange aus Perspektivlosigkeit, dem Gefühl, in mehrfacher Hinsicht abgehängt zu sein, und dumpfem Rassismus. Dass die Entwicklungen, die sich in dem berühmten Kanzlerinnen-Satz "Wir schaffen das" in vielen Schattierungen widerspiegeln, eine Frustration und Radikalisierung in Teilen der deutschen Bevölkerung ausgelöst haben, dürfen wir vernünftigerweise nicht ignorieren. Nicht ohne Grund hat die AfD, die noch im September 2015 in bundesweiten Umfragen bei kümmerlichen drei Prozent stand, ihr Wählerpotenzial erkennbar vergrößert - und bei der Bundestagswahl zwei Jahre später in Sachsen die meisten Stimmen geholt. Nur ein Tor würde behaupten, die jetzt aufkommende Radikalität - die von der AfD nicht nur gedeckt, sondern auch befeuert wird - hätte rein gar nichts mit vorigen politischen Entscheidungen (und Unterlassungen) zu tun.
Um der Gefahr vorzubeugen, missverstanden zu werden: Gewalt und Rassenhass sind durch nichts zu rechtfertigen. Es muss nicht besonders betont werden, dass sich Demokraten niemals mit Radikalen und Gewalttätern gemein machen. Jeder Demokrat muss sich aber fragen, was er selbst unternommen hat, um gefährlichen Tendenzen frühzeitig entgegenzuwirken. Hat die sächsische Landesregierung vor der Eskalation der Gewalt immer genau hingeschaut, was Teile der sächsischen Bevölkerung umtreibt? Haben wir alle genau hingeschaut, was um uns herum passiert? Ist der Rechtsstaat noch handlungsfähig? Dass Sachsen gerade zu Recht im Fokus ist, sollte uns jedoch nicht glauben machen, nur dort gäbe es bedenkliche Entwicklungen, die in einer Ablösung von rechtsstaatlichen Grundprinzipien
und in einer Verachtung des Rechtsstaates münden. Wenn etwa der Regierende Bürgermeister Berlins, Michael Müller, dazu aufruft, in bestimmten Stadtgebieten aus Sicherheitsgründen nachts lieber ein Taxi zu nutzen, statt U-Bahn zu fahren, trägt auch er dazu bei, das Bild von einem handlungsfähigen Rechtsstaat zu unterminieren. Wer den Menschen lieber erklärt, wie sie gefährliche Räume bestmöglich umgehen können, statt gefährliche Räume zu bekämpfen (ihnen also rät, den Rückzug des Staates zu akzeptieren), weckt verständlicherweise Zweifel, ob er seiner verantwortlichen Rolle als politischer Problemlöser überhaupt gerecht werden will.
Chemnitz zeigt uns: Es ist höchste Zeit, furchtsame und fruchtlose Scheindebatten über die richtige Haltung von Demokraten zu beenden. Es geht mittlerweile um Größeres. Wer nicht begreift, dass jetzt politische Problemlösung gefragt ist, die ehrliche Selbstkritik und eine schonungslose Bestandsaufnahme beinhalten muss, der unterschätzt die Härte und Dynamik der Rechtsstaatsablösung in Teilen unseres Landes.