FDPAsyl und Sicherheit

Grenzkontrolle ist eine Kernaufgabe des Rechtsstaats

Christian LindnerChristian Lindner fordert eine echte europäische Grenzpolizei
22.08.2016

In der "Welt am Sonntag" hat FDP-Chef Christian Lindner Ansätze zur Stärkung des EU- Grenzschutzes dargelegt. "Wenn Europa weiter auf Binnengrenzen verzichten will, muss es seine Außengrenzen kontrollieren. Das ist eine Kernaufgabe des Rechtsstaats", verdeutlichte er. Europa müsse sich aus der Abhängigkeit von der Türkei durch den Flüchtlingsdeal befreien: "Die Alternative zu Erdogan ist der Ausbau der kleinen Agentur Frontex zu einer europäischen Grenzpolizei mit echten Kompetenzen und moderner Ausrüstung." Er kritisierte außerdem, die CDU wolle mit der aktuellen Symboldebatte über Vollverschleierung davon ablenken, "dass die Regierung kein modernes Einwanderungsgesetz und keine Rücknahmevereinbarung mit den Staaten Nordafrikas zustande bringt".

Für eine effektive Grenzsicherung durch Frontex brauche es eher 10.000 als 1000 Mann, so Lindner weiter. Mit dieser Aufgabe könne die EU die griechische Regierung nicht allein lassen. Mit Blick auf die Herausforderungen entlang der Küstenlinie betonte Lindner jedoch, dass es in der Praxis zu einer Art Pufferzone kommen könnte, "bis hinter Griechenland ein Raum von Schengen 2.0 beginnt".

Der FDP-Chef plädierte außerdem dafür, auch in Zeiten von Sicherheitsbedenken und Terrorbekämpfung den Wert der Freiheitsrechte nicht aus den Augen zu verlieren. "Horst Seehofer hat gesagt, die Sicherheit sei das Wichtigste in der Demokratie. Das ist krass falsch", stellte Lindner klar. Vielmehr sei die Freiheit der wichtigste Wert des Grundgesetzes. Der Freidemokrat befürwortete eine lückenlose Überwachung von rückkehrenden Gotteskriegern und identifizierten Gefährdern sowie mehr Polizeibeamten. "Aber ich bin dagegen, dass unsere Sicherheitsbehörden sich selbst überfordern, indem sie Daten von jedem sammeln bis hin zur Aufhebung der ärztlichen Schweigepflicht. Das zerstört das Vertrauen in den Rechtsstaat", mahnte Lindner.

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Noch ein Jahr, dann wird der neue Bundestag gewählt. Schon nervös?

Nein, tatendurstig. Nehmen Sie zum Beispiel Wolfgang Schäuble, der verhindert hat, dass Spanien und Portugal Strafen wegen ihres zu hohen Haushaltsdefizits erhalten. Die deutsche Bundesregierung macht die Regeln des Euro-Stabilitätspakts wieder zu einer Lachnummer – und niemand im ganzen Parlament stellt sich dagegen. Das wollen wir ändern.

Aber es sieht nach einer Zitterpartie aus. Seit Sie Vorsitzender sind, hat die FDP bei acht Landtagswahlen viermal die Fünf-Prozent-Hürde gerissen. Viermal nicht. Woran liegt es?

Nach der Bundestagswahl galt die FDP als weg vom Fenster. Wer hat da überhaupt an ein Comeback geglaubt? Viele dachten, wir würden auseinanderfallen, eine schrille Protesttruppe werden oder eine gelbe Sozialdemokratie. Stattdessen haben wir unsere Fehler aufgearbeitet und das Profil als Freiheitspartei geschärft. Bei den letzten fünf Wahlen haben wir zugelegt. Ich bewerte das als Trendwende.

Vielleicht im Westen des Landes. In Ostdeutschland haben Sie nur Pleiten eingefahren.

In Sachsen-Anhalt lagen wir bei den Erststimmen über fünf Prozent, bei den Zweitstimmen knapp darunter – da hätte es um Haaresbreite gereicht. Mich treibt um, dass es dort, wo es eine friedliche Freiheitsrevolution gab, gegenwärtig keine liberale Stimme in den Parlamenten vertreten ist. Das verstehen wir als Auftrag, schon für die Wahlen in Mecklenburg-Vorpommern und Berlin.

Welche neuen Wählerschichten haben Sie sich bisher erschlossen?

In statistisch ausgewählten Wählergruppen denken wir nicht. Wir sind ein Angebot für alle, die beseelt sind vom Wunsch nach Selbstbestimmung, die Mut zur Veränderung und Freude an ihrer Schaffenskraft haben, die sich und anderen etwas zutrauen. Dem Unternehmer, der nicht die Marktwirtschaft, sondern nur die Subvention für seine Fotovoltaik-Anlage schätzt, kann die FDP nichts anbieten. Der Lehrerin hingegen, die mit dem Elternverein und Sponsoren dafür sorgt, dass die Digitalisierung in ihrem Unterricht ankommt, wollen wir alle bürokratischen Hürden aus dem Weg räumen. Es geht um ein Lebensgefühl.

Es geht um ein Lebensgefühl – und um Aufmerksamkeit. Der jagen Sie mitunter hinterher. In der Außenpolitik sind Sie sogar radikaler als die Linke. Die fordert den Abbruch der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei. Sie setzen noch eins drauf und vergleichen Erdogan mit Hitler.

Das habe ich nicht getan, weil es absurd wäre. Allerdings habe ich darauf hingewiesen, dass Erdogan den gescheiterten Putsch instrumentalisiert, um ein autoritäres Regierungssystem zu schaffen. Diese Methode hat historische Parallelen. Unser Außenexperte Alexander Lambsdorff hat schon lange vorher gefordert, die Beitrittsverhandlungen zur EU zu beenden. Übrigens auch, weil die EU selbst nicht aufnahmefähig wäre und viel Reformarbeit vor sich hat.

In einer Antwort auf eine Anfrage der Linken stuft die Bundesregierung die Türkei als zentrale Aktionsplattform für islamistische Gruppierungen ein. Ist das notwendige Ehrlichkeit oder eine diplomatische Dummheit?

Ein Fauxpas, der das Chaos in der Türkei-Politik innerhalb der Regierung zeigt. Erst werden Staatsgeheimnisse fahrlässig an die Linkspartei verraten, dann lässt man das Außenministerium und unsere Soldaten im Türkei-Einsatz mit den Folgen allein. Jetzt ist die Frage, was folgt.

Und? Was folgt Ihrer Meinung nach?

Als Realist kann man sich seine Gesprächspartner international nicht aussuchen. Man muss mit Erdogan also weiter über Menschenrechte und punktuelle Kooperation sprechen. Aber Europa muss sich aus der Abhängigkeit von der Türkei in der Flüchtlingspolitik befreien, weil wir sonst erpressbar sind.

Haben wir uns zu sehr in Erdogans Hände begeben?

Es ist jedenfalls falsch, dass insbesondere die CDU sagt, der Flüchtlingsdeal sei alternativlos. Im Gegenteil ist die Zeit gekommen, aktiv am Plan B zu arbeiten. Wenn Europa weiter auf Binnengrenzen verzichten will, muss es seine Außengrenzen kontrollieren. Das ist eine Kernaufgabe des Rechtsstaats. Die Alternative zu Erdogan ist der Ausbau der kleinen Agentur Frontex zu einer europäischen Grenzpolizei, die mit echten Kompetenzen und moderner Ausrüstung wieder Kontrolle herstellt. Dafür braucht man eher 10.000 als 1000 Mann.

Sie kennen die Ägäis? Sie kennen die griechische Küstenlinie?

Ja, eben deshalb kann man die griechische Regierung nicht allein lassen. In der Praxis würde es zu einer Art Pufferzone kommen, bis hinter Griechenland ein Raum von Schengen 2.0 beginnt. Auch das wäre ein klares Signal an jene, die in Bewegung sind, dass Europa nicht mehr grenzenlos aufnahmebereit ist.

Dann war die Schließung der Balkan-Route richtig?

Absolut. Wir profitieren davon mehr als vom Deal mit der Türkei.

Auch in der Innenpolitik gehen Sie mit der Regierung hart ins Gericht. Machen die auch etwas richtig?

Die große Koalition hat es zustande gebracht, dass in Zeiten steigender Steuereinnahmen und höchster Beschäftigtenzahlen dennoch die Sozialabgaben steigen und eine Entlastung der Menschen nicht in Sicht ist. Das Neueste ist, dass die Benzinsteuer automatisch steigen soll, wenn ausnahmsweise die Preise fallen. Bei Zukunftsfragen wie der Digitalisierung droht Deutschland abgehängt zu werden. Kupferkabel statt Glasfaser – das ist symbolisch für diese Regierung.

Kritik an der Regierung ist das eine, selbst ein Thema zu setzen das andere. Sind Sie risikoscheu?

Ich nenne beispielhaft mal konkrete Themen, dann beurteilen Ihre Leser das. Erstens muss der Bildungsföderalismus reformiert werden. Die Reibungsverluste von 16 Ländern sind nicht mehr zeitgemäß. Weil wir die Bildung modernisieren, die Schulen digitalisieren und die Lehrer weiterbilden müssen, sollten wir die Kleinstaaterei überwinden. Zweitens Erbschaftsteuer: Im Modell der großen Koalition bleibt ein Milliardär mit Betriebsvermögen steuerfrei, hat aber bürokratische Fesseln. Ich schlage eine Erbschaftsteuer vor, die ab einem Freibetrag von einer Millionen Euro ohne Bürokratie zehn Prozent fordert, die über ein Jahrzehnt gezahlt werden. Drittens sollte Deutschland seine hyperehrgeizigen Klimaziele korrigieren – gleichzeitig aus Kernenergie und Kohle aussteigen ist physikalisch und ökonomisch unmöglich. Viertens ist das Thema Steuerreform für die FDP ein gewisses Risiko, weil uns sofort wieder Verengung vorgeworfen werden könnte. Wir halten aber daran fest, weil Entlastung und Vereinfachung überfällig sind.

Auch der Wirtschaftsflügel der Union hat gerade Vorschläge gemacht, die Bürger steuerlich zu entlasten...

Wie glaubwürdig ist das, nachdem die zu allen neuen Belastungen in den letzten drei Jahren die Hand im Bundestag gehoben haben? Die Union hat vor den letzten drei Bundestagswahlen jeweils Entlastungen angekündigt, nach den Wahlen davon aber nichts mehr wissen wollen. Und jetzt folgt vor der nächsten Wahl die nächste Ankündigung, die aber nicht einmal zur Finanzplanung von Herrn Schäuble passt? Ich fordere die Regierung auf, noch in diesem Jahr eine Entlastung auf den Weg zu bringen. Ansonsten weiß jeder, dass das nicht mehr als leere Worte sind.

Nachdem die anderen Parteien so vieles falsch machen: Mit wem wollen Sie 2017 zusammenarbeiten?

Mir würde es leichter fallen, Ihre Frage zu beantworten, wenn Sie mir bitte den genauen Unterschied zwischen CDU, SPD und Grünen erklären könnten. Ich sehe da nämlich keinen.

Die SPD in Rheinland-Pfalz ist zufrieden mit der Ampel-Koalition. Sie hat gerade empfohlen, das auch im Bund zu versuchen. Eine gute Idee?

Ich bin gespannt auf die Initiativen aus der Landes-SPD, das Wahlprogramm der Bundespartei zu prägen. Was ich gegenwärtig höre, sind Fantasien zu Steuererhöhungen, Schuldenpolitik in Europa und Bürokratieausbau. Das passt nicht.

Bürgerrechte gehören zur DNA der FDP. Ist es schwer, die Freiheitsrechte einzufordern in Zeiten des Terrors?

Es ist in diesen Zeiten wichtiger denn je. Horst Seehofer hat gesagt, die Sicherheit sei das Wichtigste in der Demokratie. Das ist krass falsch. Die Freiheit ist für das Grundgesetz der wichtigste Wert. Meine Kollege Wolfgang Kubicki sagt zu Recht: Fassung bewahren und Verfassung achten.

Was ist Ihre Antwort auf die Terrorbedrohung?

Engste Zusammenarbeit in Europa. In Deutschland bin ich dafür, dass wir alle potenziellen Gefährder, insbesondere die rückkehrenden Gotteskrieger, lückenlos überwachen. Aber ich bin dagegen, dass unsere Sicherheitsbehörden sich selbst überfordern, indem sie Daten von jedem sammeln bis hin zur Aufhebung der ärztlichen Schweigepflicht. Das zerstört das Vertrauen in den Rechtsstaat. So wird nichts besser, denn nicht die Gesetze sind das Problem, sondern ihr Vollzug. Also sollte die Wehrhaftigkeit des Rechtsstaats durch mehr Polizei gestärkt werden. Ich halte es auch für richtig, dass die Vollverschleierung beim Kontakt mit öffentlichen Institutionen unterbunden wird. Aber das ist in Wahrheit doch ein Wahlkampfmanöver der CDU. Diese Symboldebatte soll davon ablenken, dass die Regierung kein modernes Einwanderungsgesetz und keine Rücknahmevereinbarung mit den Staaten Nordafrikas zustande bringt.

Der Staat hat seine Kernaufgaben über viele Jahre vernachlässigt: Polizei, Bundeswehr, Justiz. Muss die FDP sich nicht vorwerfen, daran mitgewirkt zu haben?

Die Welt- und Sicherheitslage hat sich in den letzten Jahren verändert, also muss sich auch die Politik ändern. Der Staat hat jedes Jahr mehr Geld, das er verteilt. In den Kernaufgaben äußere und innere Sicherheit, Justiz, Infrastruktur und Bildung haben wir aber an Performance eingebüßt. Wäre der Staat ein Unternehmen, bräuchten wir jetzt einen Restrukturierer, der sagt: Zurück zum Kerngeschäft!

Zum Schluss noch die Chance, ein Thema zu setzen: Vor fünf Jahren war es maßgeblich die FDP, die Joachim Gauck ins Bundespräsidialamt brachte. Welcher Kandidat soll es Ihrer Meinung nach diesmal sein?

Der Unterschied ist, dass wir gegenwärtig nicht gerade auf dem Höhepunkt unseres Einflusses in der Bundesversammlung sind. Deshalb warten wir zunächst einmal ab.

Welche Eigenschaften sollte der neue Präsident besitzen?

Wir haben ein Erklär- und Vertrauensdefizit in der Politik, das nach dem Ausscheiden von Joachim Gauck nicht größer werden darf. Ich wünsche mir daher eine Persönlichkeit, die mit Überzeugung und echter Leidenschaft für unser liberale Verfassung und unsere freiheitliche Wirtschaftsordnung eintritt – auch wenn das bisweilen für die Regierung unangenehm ist. Er oder sie muss aber in meinen Augen keine Persönlichkeit "von außen" sein, wie es viele Kollegen in den anderen Parteien fordern. Ich verstehe dieses Ressentiment gegen Politiker nicht. Ist es ein Makel, wenn jemand von den Bürgern in ein Mandat gewählt worden ist? Welches Selbstzeugnis stellt sich eine Demokratie aus, wenn ihre führenden Repräsentanten für das Amt des Staatsoberhauptes sagen: Bloß kein gewählter Politiker! Was zählt, sollte die Persönlichkeit sein.

Lammert oder Schäuble?

Alle Namen sind spekulativ. Ich beobachte jedoch mit Interesse, wie sich vor allem die Grünen winden, weil sie kein Signal Richtung Schwarz-Grün und kein Signal Richtung Rot-Rot-Grün senden wollen. Die übertaktieren.

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