30.09.2014FDPFDP

GENSCHER/BIEDERMANN-Doppelinterview: Es ist der glücklichste Tag meiner gesamten politischen Arbeit

Berlin. Der FDP-Ehrenvorsitzende HANS-DIETRICH GENSCHER und die Schauspielerin JEANETTE BIEDERMANN gaben der „Bild“ (Dienstag-Ausgabe) das folgende Doppelinterview. Die Fragen stellten RALF SCHULER:

Frage: Herr Genscher, wann haben Sie sich eigentlich den Satz überlegt: „Wir sind heute zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise...“

GENSCHER: Auf dem Flug nach Prag habe ich überlegt, was ich sagen soll. Und obwohl ich nun schon länger in der Politik war, fiel mir nichts ein. Das ist eine Rede, die man nicht schreiben kann. Ich habe mich dann darauf verlassen, dass ich aus der Situation heraus die richtigen Worte finden würde. Als ich später auf dem Balkon stand, war es dunkel, das Licht der Kamera blendete mich, so dass ich gar nichts mehr sah. Ich hörte nur, dass da draußen die Menschen waren und habe in die Finsternis hinein diesen Satz gesagt...

Frage: ... der in die Geschichte einging, wie der 30. September 1989 überhaupt.

GENSCHER: Es ist der glücklichste Tag meiner gesamten politischen Arbeit. Auch ich habe ja viele Jahre vorher die DDR verlassen. Ich wusste, wie sich die Menschen fühlen, was es heißt, Freunde und Verwandte zurückzulassen. Das hat mich schon sehr aufgewühlt.

BIEDERMANN: Ich verdanke Ihnen meine Freiheit, Herr Genscher. Alles, was meine Eltern und die vielen anderen Menschen geträumt haben, ist an diesem Tag wahr geworden. Jeder Einzelne, der wegging, hat einen kleinen Stein aus der Mauer geschlagen.

Frage: Sie waren damals in der Prager Botschaft neun Jahre alt, Frau Biedermann. Wussten Sie, wer Hans-Dietrich Genscher ist?

BIEDERMANN: Mein Vater hat mir gesagt, das sei „ein guter Mann“...

Frage: Herr Genscher, wussten Sie, wie die Flüchtlinge in der Botschaft lebten?

GENSCHER: Man hatte mich informiert, aber so, wie es dann tatsächlich war, hatte ich es mir nicht vorgestellt. Als ich durch die Tür des Eingangstores kam, standen da schon Betten. Die Leute schliefen in der Einfahrt. Drinnen musste ich über etliche Menschen hinwegsteigen. Viele haben mich gar nicht erkannt.

BIEDERMANN: Wir hatten so gut wie nichts dabei. Offiziell haben wir nur einen Tagesausflug von Ost-Berlin nach Prag gemacht, da wäre großes Gepäck an der Grenze verdächtig gewesen.

GENSCHER: Das kenne ich: Bei meiner Flucht 1952 hatte ich nur einen Koffer dabei und ein Bahnticket nach Rostock zur Tarnung. Aber statt an der Ostsee bin ich dann in Westberlin ausgestiegen.

Frage: Und bei Ihnen, Frau Biedermann?

BIEDERMANN: Meine Eltern hatten mich sicherheitshalber nicht eingeweiht, damit ich nichts ausplaudern konnte. Die Männer waren draußen im Garten der Botschaft untergebracht, die Frauen und Kinder drinnen. Dort habe ich mit meiner Mama drei Tage lang auf einer Treppenstufe gewohnt und geschlafen. Es war voll, eng, Kinder, Babys, ständig Krach. Manchmal gab es Joghurt zu essen. Mit zusammengeknoteten Babywindeln haben wir den Männern draußen etwas zu essen runtergelassen. Und es gab nur eine Toilette.

Frage: Erinnern Sie sich noch an die Ausreise mit dem Zug von Prag über Dresden nach Hof?

BIEDERMANN: Das sind sehr beklemmende Erinnerungen. Die Stasi kam in die Züge, holte Kinder heraus, um die Eltern auch zum Aussteigen zu zwingen. Deshalb haben mich meine Eltern die ganze Zeit bewacht, festgehalten. Den Moment, als wir durch den Eisernen Vorhang fuhren, werde ich niemals vergessen. Und der Empfang in Hof war unfassbar! Menschen, die sich einfach mit uns gefreut haben, die helfen wollten.

GENSCHER: Der Satz: „Wir sind ein Volk“ ist damals Realität geworden. Und: Europa ist damals neu geboren worden. Das müssen wir bewahren.

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