GENSCHER-Interview für den Bonner "General-Anzeiger"
Berlin. Der FDP-Ehrenvorsitzende HANS-DIETRICH GENSCHER gab dem Bonner"General-Anzeiger" (Mittwoch-Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellten ULRICH LÜKE und ANDREAS TYROCK:
Frage: Herr Genscher, Sie lieben derzeit die klare Aussprache: In die Geschichte der EU wird das erste Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts als das verlorene eingehen, sagen Sie. Weshalb?
GENSCHER: Man hat nicht erkannt, dass die europäische Einigung ein dynamischer Prozess ist. Auch die Wirtschafts- und Währungsunion muss dynamisch verstanden werden. Die eingegangenen Verpflichtungen mussten eingehalten werden, was Deutschland als erstes Land nicht tat. Und man hätte die EU weiterentwickeln müssen hin zu einer größeren Kohärenz der Wirtschafts- , Finanz- und Sozialpolitik. Dazu hat es leider keine neuen Impulse gegeben, so dass dieses erste Jahrzehnt in manchen Bereichen sogar Rückbau war.
Frage: Würden Sie heute selbstkritisch einräumen, dass Helmut Kohl und Sie Warnungen vor der Einführung des Euro in den Wind geschlagen haben?
GENSCHER: Bedenkenträger wird es immer geben. Das Problem ist nicht, dass damals die Voraussetzungen für den Euro nicht gegeben gewesen waren, sondern das, was ich eben gesagt habe.
Frage: Warum tun sich die Deutschen so schwer, den Wert der EU und des Euro zu erkennen?
GENSCHER: Wir sind verwöhnt. Für uns waren die Wirkungen des europäischen Einigungsprozesses am positivsten. Für uns bedeutete er zunächst mal die Rückkehr in die Gemeinschaft der zivilisierten Völker. Etwas ganz Großartiges. Ich habe das Gefühl, dass viele das als Selbstverständlichkeit betrachten. Das war aber nicht so selbstverständlich.
Frage: Und materiell?
GENSCHER: Immense materielle Vorteile. Und vielleicht übersieht auch der eine oder andere, dass selbst das große Deutschland ohne die Mitgliedschaft in der EU nicht sehr bedeutungsvoll wäre in der globalisierten Welt.
Frage: Es ist x-mal dementiert, dass der Euro der Preis für die Einheit war, aber ist es historisch richtig, dass mehr Europa, mehr politische Union mit Frankreich damals nicht zu machen war?
GENSCHER: Das Erste ist in der Tat der größte Unsinn, den man sich vorstellen kann. Ich habe im Februar 1988 ein Memorandum zur Wirtschafts- und Währungsunion vorgelegt, drei Monate später, auf dem Europäischen Rat in Hannover, ist dann schon der erste Beschluss zum Euro gefasst worden. Mir soll niemand sagen, irgendjemand hätte zu diesem Zeitpunkt gewusst, dass die Mauer am 9. November 1989 fällt.
Frage: Und Frankreichs Bedenken?
GENSCHER: Nicht nur Frankreich hatte Probleme, weiter zu gehen.
Frage: Müsste die Bundesregierung nicht gerade jetzt Initiativen für eine Politische Union ergreifen?
GENSCHER: Dafür tritt die Regierung ja ein. Der Wille zur politischen Union ist heute größer als damals. Vielleicht war damals die Zeit für mache noch nicht reif. Heute hat man erkannt, dass Schritte zur politischen Union auch die Schaffung einer wirklichen Wirtschafts- und Währungsunion erleichtern würden.
Frage: Sehen Sie bei einer solchen Initiative die Chancen zum Zusammengehen mit den Oppositionsparteien SPD und Grüne?
GENSCHER: Ja - die Bundesregierung kann dabei jede innenpolitische Unterstützung brauchen.
Frage: Zuweilen hat man den Eindruck, Deutschland und Frankreich beschlössen alleine, wo es lang geht...
GENSCHER: Eigentlich wurde immer erwartet, dass Frankreich und Deutschland vorangehen. Allerdings hatten wir immer den Ehrgeiz, beste Beziehungen zu den kleineren Staaten zu haben. Heute halte ich es im Sinne des Weimarer Dreiecks für notwendig, dass die aktive Rolle Frankreichs und Deutschlands durch die aktive Teilnahme Polens ergänzt wird. Wenn diese drei Länder gemeinsame Impulse geben, sind auch die verschiedenen Interessenlagen Europas mitvertreten. Das führt geschichtliche Erfahrungen zueinander.
Frage: Ist die Gefahr von der Hand zu weisen, dass die südlichen EU-Mitglieder in dieser Eurokrise die nördlichen erpressen, sie zu riskanten Handlungen zwingen, was etwa die EZB angeht?
GENSCHER: Diese Gefahr sehe ich nicht. Es beeindruckt mich, mit welcher Konsequenz die Regierungen des Mittelmeerraumes heute nachholen, was ihre Vorgänger versäumt haben. Das sind wirklich keine leichten Entscheidungen. Man sieht, bei dem einen mehr, bei dem anderen weniger, Licht am Ende des Tunnels. Das ist ganz deutlich in Italien und auch in Spanien.
Frage: Griechenland ist derzeit nicht nur das Sorgenkind der EU, sondern auch so etwas wie ein Prügelknabe. Ziemt sich solcher Umgang?
GENSCHER: Ich finde die Art, wie von manchem in Deutschland über Griechenland gesprochen wird, völlig unangemessen. Nicht nur jeder Mensch, auch jedes Volk hat seine Würde.
Frage: Wo wir bei dem Thema sind, kommen wir mal auf Ihre Partei...
GENSCHER: Da sind Sie jetzt aber völlig falsch gewickelt.
Frage: Europäische Themen sind Themen von hoher Sensibilität. Wird Ihre Partei dem derzeit gerecht?
GENSCHER: Ich denke schon. Das zeigen unsere Fraktionen im Bundestag und im Europäischen Parlament, und auch die Kollegen in der Bundesregierung. Leider gibt es auch in unserer Partei Stimmen, die mir nicht gefallen. Aber sie sind nicht die maßgeblichen.
Frage: Sie sprachen kürzlich von neonationalistischem Blech, das da geredet werde...
GENSCHER: Ich habe gesagt: "Ich müsse mich fragen, ob das alte Sprichwort `Reden ist Silber, Schweigen ist Gold' noch gilt. Ob nicht manches Reden nur Blech ist."
Frage: Hat die Parteiführung das gehört?
GENSCHER: Die hatte ich bei der Anmerkung nicht im Auge.
Frage: Sie hatten nicht Philipp Rösler gemeint?
GENSCHER: Nein. Ich bezog mich auf skandalöse Äußerungen aus München, die an dem Tage, an dem ich den Artikel schrieb, in der Presse standen.
Frage: Ist die Idee einer Sonderwirtschaftszone Griechenland, wie sie der EU-Parlamentspräsident ins Spiel bringt, eine gute Idee?
GENSCHER: Wir in Deutschland haben damit gute Erfahrungen gemacht, zum Bespiel mit der Zonenrandförderung, mit der Förderung für Westberlin in der Zeit der Teilung und mit der Förderung in den neuen Bundesländern. Das kann auch in Griechenland durchaus Sinn machen.
Frage: Kann die Eurozone so bleiben, wie sie ist?
GENSCHER: Die Risiken eines Austritts einzelner Länder sind nicht absehbar. Das Risiko ist mutmaßlich größer als das zusätzlicher Hilfeleistungen. Die Frage, ob neue Länder hinzukommen, ist zu beantworten, wenn sie sich stellt.
Frage: Am 12. September entscheidet das Bundesverfassungsgericht über die Vereinbarkeit des Rettungsschirms ESM und des Fiskalpakts mit dem Grundgesetz. Was, wenn das Gericht nein sagt?
GENSCHER: Ich halte das zwar nicht für möglich, aber ich möchte hier über den Ausgang des Verfahrens nicht spekulieren. Ich möchte nur darauf hinweisen, dass unser Grundgesetz die deutsche Politik auf eine Politik der europäischen Einigung verpflichtet. Das ist nicht nur etwas, was uns erlaubt ist, wie manche meinen, die Europäische Einigung ist verfassungsrechtliche Pflicht.
Frage: Die FDP muss europäisch sein oder sie wird nicht sein. Richtig?
GENSCHER: Ja.
Frage: Irritiert Sie der Kurs Ihrer Parteiführung, nicht nur beim Europathema?
GENSCHER: Der Kurs irritiert mich nicht, aber er sollte noch profilierter werden. Jeder weiß, dass wir eine schwierige Phase durchschreiten, aber Christian Lindner in NRW und Wolfgang Kubicki in Schleswig-Holstein haben gezeigt, dass man mit einem klaren politischen Profil gegen einen vermeintlichen Trend erfolgreich sein kann.
Frage: Wo wünschen Sie mehr Profil?
GENSCHER: Das gilt für alle Bereiche.
Frage: Für alle?
GENSCHER: In der Außenpolitik ist das Profil sehr klar, wenn ich von einigen Querschlägern in der Europapolitik mal absehe. Und die Justizministerin genießt nicht ohne Grund in den Meinungsumfragen das höchste Ansehen unter den FDP-Ministern, weil sie als Gralshüterin eines freiheitlichen Rechtsstaats erkannt wird.
Frage: Und sonst?
GENSCHER: Die Partei könnte beispielsweise in der Bildungspolitik sehr viel stärker in Erscheinung treten. Die Probleme sind offenkundig, denken Sie nur an die gänzliche Unbeweglichkeit der Kultusministerkonferenz. Sie weiß die Dynamik der Entwicklung offenbar nicht einzuschätzen.
Frage: Bildungsföderalismus soll doch Wettbewerb heißen...
GENSCHER: Die Chance des Wettbewerbs ist durch die sogenannte Selbstkoordinierung in der KMK geradezu aufgegeben worden. Fortschritt gibt es nur im Schildkrötentempo. Und das böse Wort gilt immer noch: Vater versetzt, Kinder sitzen geblieben. Es fehlt die ausreichende Priorität für die Finanzmittel in der Bildungspolitik. Wir haben unverändert Klassenfrequenzen, die mittelalterlich anmuten. Aber der Bund darf nicht fördern. Von dem Bologna-Fehlstart will ich gar nicht reden.
Frage: Gleiches gilt also für die Universitäten?
GENSCHER: Sehen Sie das neue Ranking zu den Eliteuniversitäten. Die Finanzkraft der Länder entscheidet über die Qualität. Aber die Leute in den neuen Bundesländern sind doch nicht weniger intelligent als in Bayern oder Baden-Württemberg. Das kann nicht in Ordnung sein. Und deshalb ist das Kooperationsverbot zwischen Bund und Ländern geradezu ein Rückschritt.
Frage: Ist die Energiewende tatsächlich eine der wesentlichsten Entscheidungen in der Geschichte der Bundesrepublik?
GENSCHER: Hier sorgt die FDP für eine bezahlbare Politik der ruhigen Hand. Nicht jeder ist sich dabei offenbar bewusst gewesen, dass solche Dinge nicht umsonst, nicht kostenlos zu machen sind. Die Energiewende ist eine große Sache.
Frage: Hat die FDP, wie Sie es gefordert haben, wieder Boden unter die Füße bekommen?
GENSCHER: Dass das möglich ist, ist in Nordrhein-Westfalen und Schleswig-Holstein gezeigt worden, NRW ist immerhin das größte Bundesland. Deshalb bin ich hoffnungsvoll, dass ideenreiche Leute mit profilierten Auffassungen der Partei überall eine neue Chance geben können. Lindner ist das Risiko eingegangen in einer schier aussichtslosen Lage anzutreten. Das hat mir imponiert.
Frage: Ein kurzes Satzergänzungselement. Ich schätze an Christian Lindner...
GENSCHER: ...seine Kreativität und seine Durchsetzungsfähigkeit.
Frage: Ich beobachte mit Interesse, dass sich Guido Westerwelle...
GENSCHER: ...zunehmend profiliert, was mich wirklich freut.
Mir fällt auf, dass Daniel Bahr...
GENSCHER: ...in dem schwierigen und risikoreichen Gesundheits-Ressort immer mehr an Profil gewinnt.
Frage: Wenn es nach mir ginge, wäre Rainer Brüderle...
GENSCHER: ...so, wie er ist. Er ist ein absoluter Trumpf für die Partei und gewinnt zunehmend an Gewicht nicht nur für sich selbst, sondern für die liberale Sache.
Frage: Mich stört, dass Philipp Rösler...
GENSCHER: ...so unterschätzt wird. Immerhin hat er die Partei in einer besonders schwierigen Lage zu führen.
Frage: Am 1. Oktober jährt sich der Beginn der Kanzlerschaft Helmut Kohls zum 30. Mal. Sie haben sie mit dem berühmten Wendebrief möglich gemacht. Gab es diese Wende rückblickend überhaupt?
GENSCHER: Es war eine Wende, die notwendige Korrekturen in der Wirtschafts- und Finanzpolitik ermöglichte und eine Kurskorrektur in der Außen- und Sicherheitspolitik vor allem beim Nato-Doppelbeschluss verhinderte. Helmut Schmidt hatte sich auf dem SPD-Parteitag im Frühjahr 1982 in München schon nicht mehr zu Wort gemeldet, als hanebüchene Beschlüsse zur Wirtschaftspolitik gefasst wurden. Ich habe damals das Schicksal meiner Partei aufs Spiel gesetzt, weil es staatspolitisch notwendig war. Gottlob kann ich heute sagen, nicht nur das Schicksal hat mich Recht gegen, sondern auch die Wählerschaft. Wiederum war es Aufgabe der FDP gewesen, dafür zu sorgen, dass die Grundachse der Republik nicht verändert wird. Die CDU/CSU, die davon profitierte und ohne Wahl den Bundeskanzler stellen konnte, wurde auf diesem Wege zu einem fairen Partner.
Frage: Aber Helmut Kohl wollte die geistig-moralische Wende...
GENSCHER: Diesen Begriff gibt es in meinem Vokabular nicht.