FDPEU-Politik

England hat Europa mitgeprägt

Alexander Graf LambsdorffAlexander Graf Lambsdorff spricht über die Vorteile der Europäischen Union
16.06.2016

Eine Woche bleibt bis zum Brexit-Referendum. Im Interview mit der "Heilbronner Stimme" hob der Vizepräsident des Europäischen Parlaments, Alexander Graf Lambsdorff, den Mehrwert der EU-Mitgliedschaft hervor. "Die Europäische Union ist doch ein Freiheitsprojekt. Es gibt Reisefreiheit, Gewerbefreiheit, Niederlassungsfreiheit. Man kann arbeiten oder studieren, wo man will. Es gibt Rechtsstaatlichkeit", gab er zu bedenken. England als Mutterland des Liberalismus habe dieses Europa mitgeprägt, betonte Lambsdorff. "Deswegen wollen wir als Freie Demokraten ja auch, dass es an dem Freiheitsprojekt weiter teilnimmt."

Dennoch sei die Stimmung in Brüssel vor dem Votum eher ruhig, erklärte Lambsdorff. "Hier kann man sich die EU, selbst wenn man das nicht will, doch auch ohne Großbritannien vorstellen. Schließlich war das Land an den ersten 16 Jahren der EU gar nicht beteiligt." Ohne Deutschland oder Frankreich dagegen wäre die EU vollkommen unvorstellbar, so der Freidemokrat.

Im Fall eines tatsächlichen Austritts aus der EU würde es für Großbritannien schwer werden, denn für viele Produkte und Dienstleistungen würde der Zugang nach Europa erschwert, erläuterte Lambsdorff. "Das hat nichts mit Angstmache zu tun, sondern ist eine nüchterne Analyse der Fakten. Es liegt auf der Hand, dass 60 Millionen Briten den Marktzugang nach Europa mehr brauchen als 440 Millionen Kontinentaleuropäer nach Großbritannien", führte er aus.

Lesen Sie hier das gesamte Interview.

Herr Graf Lambsdorff, Sie sind kraft Ihres Parteibuchs ein Verfechter größtmöglicher Freiheit. Die Briten fühlen sich offenbar unfrei in der EU. Geht es Ihnen auch so?

Im Gegenteil. Die Europäische Union ist doch ein Freiheitsprojekt. Es gibt Reisefreiheit, Gewerbefreiheit, Niederlassungsfreiheit. Man kann arbeiten oder studieren, wo man will. Es gibt Rechtsstaatlichkeit, man muss in Europa keine Angst um seine Freiheit haben. England als Mutterland des Liberalismus hat dieses Europa mitgeprägt. Deswegen wollen wir als Freie Demokraten ja auch, dass es an dem Freiheitsprojekt weiter teilnimmt.

Ist die EU diese machthungrige Krake, von der so viel in Großbritannien die Rede ist?

Das nicht, aber es gibt immer wieder bürokratische Auswüchse. Ich erinnere nur an das Glühbirnenverbot, gegen das die FDP heftig gekämpft hat. Solche Auswüchse gibt es aus Berlin allerdings auch, denken Sie nur an den Paternosterführerschein von Frau Nahles.

Offenbar gibt es im System Brüssel auch viele Fehler. Wo genau liegen die?

Ein Systemfehler ist, dass der Europäische Rat, also das Treffen der Staats- und Regierungschefs, ein eigenes Organ der EU geworden ist. Das führt dazu, dass die Mitgliedsstaaten in der Konsensfalle sitzen, denn anders als Minister oder wir Parlamentarier müssen die Staats- und Regierungschefs immer einstimmig entscheiden. Das macht alles langsamer und schwieriger.

Das größte britische Boulevardblatt "The Sun" ruft seine Leser auf, für den EU-Austritt zu stimmen. Eine Begründung lautet, die EU sei "gierig, verschwenderisch und schikanierend". Verläuft diese Debatte noch rational?

Ich war gerade in London und habe festgestellt: Es gibt zwei Debatten-Ebenen. Die eine läuft zivilisiert ab, da werden ernsthaft Argumente ausgetauscht. Leider trifft dieses Merkmal nach meiner Beobachtung nur auf 1 Prozent der Diskussionen zu. 99 Prozent der Debatten sind Panikmache, Verunglimpfungen, Lügen und Verzerrungen von Tatsachen - vor allem auf Seiten der Brexit-Befürworter.

Wie ist die Stimmung in Brüssel?                                                            

In Brüssel ist man sehr ruhig. Hier kann man sich die EU, selbst wenn man das nicht will, doch auch ohne Großbritannien vorstellen. Schließlich war das Land an den ersten 16 Jahren der EU gar nicht beteiligt. Ohne Deutschland oder Frankreich dagegen wäre die EU vollkommen unvorstellbar.

Der britische Premier Cameron war über Jahre ein scharfer Kritiker der EU, dann hat er das Referendum initiiert- und verteidigt seitdem Europa mit Leidenschaft. Ist das noch glaubwürdig?

Natürlich ist das nicht glaubwürdig. Man kann nicht Jahre lang den obersten Europaskeptiker geben und anschließend Anführer einer Pro-Europa- Kampagne werden. Dieser Widerspruch trifft leider auf viele EU-Befürworter in Großbritannien zu, die vorher ständig über die EU gelästert haben.

Cameron hätte auch auf das Referendum verzichten können.

Er wollte das Referendum ja gar nicht, sondern ist ein Getriebener der Euro-Skeptiker seiner Partei und der Rechtspopulisten. Selbst wenn er das Referendum gewinnt, ist übrigens nicht gesagt, dass er noch lange Premierminister und Vorsitzender der Tories bleiben kann.

Heißt?

Cameron hat den Briten versprochen, bei einem EU-Verbleib die europäischen Verträge neu zu verhandeln, damit Brüssel dem Land noch mehr entgegen kommt. Zu solchen Verhandlungen wird es frühestens 2018 kommen. Seine innerparteilichen Gegner werden daher keine Gelegenheit auslassen, um Cameron an seine Versprechen zu erinnern. Der politische Druck auf ihn wird enorm, solange er nicht liefern kann.

Wäre der Brexit eine Katastrophe für Europa und Großbritannien, wie viele meinen?

Für Großbritannien würde es schwer werden, denn für viele Produkte und Dienstleistungen würde der Zugang nach Europa erschwert. Das hat nichts mit Angstmache zu tun, sondern ist eine nüchterne Analyse der Fakten. Es liegt auf der Hand, dass 60 Millionen Briten den Marktzugang nach Europa mehr brauchen als 440 Millionen Kontinentaleuropäer nach Großbritannien.

Würde Deutschlands Wirtschaft Schaden nehmen?

Viele Unternehmen haben enge Bindungen nach Großbritannien. Da würde sich eine Menge verkomplizieren. Es würde eine neue Handelsbürokratie entstehen, es würde Zölle und neue Zulassungsverfahren geben. Manche deutsche Unternehmen würden da Nachteile erfahren.

Eine Art Ansteckungseffekt, der zu weiteren Referenden über EU-Austritte führt, fürchten Sie nicht?

Das ist eine Phantomdiskussion. Das einzige Land, das eine ähnlich kritische Haltung zur EU hat wie die Briten ist Dänemark. Andere Länder wie Polen und Ungarn schimpfen zwar auf die EU, würden aber niemals auf die Idee kommen auszutreten. Allein, weil sie Netto-Empfänger von EU-Haushaltsmitteln sind.

Angenommen, der Briten entschieden sich mehrheitlich für den Austritt. Zu welchem Zeitpunkt könnte das Land tatsächlich austreten?

Das ist ein kompliziertes Verfahren. Der Vertrag sieht für einen Rückzug zwei Jahre vor. Spätestens vor der nächsten Europawahl im Mai 2019 müssten die Briten die EU aber verlassen haben.

Zum Schluss Ihre Prognose: Wie geht die Abstimmung aus?

Man kann das nicht seriös voraussagen, dazu sind die Umfrageergebnisse zu nah beieinander. Jetzt warten wir in Ruhe ab und gehen dann mit dem Ergebnis genauso ruhig um.

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