FDPDreikönigstreffen 2021

Deutschland steht vor einer Phase der Neugründung

Christian LindnerChristian Lindner meint: "Bei der Neugründung unseres Landes muss der Gedanke der Liberalität von Gesellschaft und Wirtschaft wieder im Zentrum stehen."
13.01.2021

Mit dem Dreikönigstreffen sind die Freien Demokraten im angestammten Ort Stuttgarter Opernhaus, in dem sich sonst rund 1400 Liberale am Dreikönigstag zum Start in das politische Jahr versammeln, in das Superwahljahr 2021 gestartet. FDP-Chef Christian Lindner, der dieses Mal wegen der Corona-Pandemie vor leeren Rängen sprach, nutzte auch unter diesen außergewöhnlichen Umständen die Gelegenheit, um das Ziel seiner Partei zu bekräftigen, bei der Bundestagswahl im Herbst gut abzuschneiden und dann der nächsten Bundesregierung anzugehören. "Wir sind bereit zur Übernahme von Verantwortung für unser Land", sagte er in seiner rund 40-minütigen Rede, die virtuell im Internet oder im Fernsehen zu verfolgen war. "Mehr noch: Wir haben Lust auf Gestaltung. Wir haben Lust darauf, nach dem Ende der Ära Merkel am nächsten Kapitel unseres Landes mitzuschreiben." Mit deren Politik ging er hart ins Gericht.

Lindner bezeichnete die jüngst beschlossenen neuen Corona-Beschränkungen als "vielfach nicht verhältnismäßig" und auch nicht praxistauglich. Die Beschränkung der Kontakte auf eine einzelne Person außerhalb des eigenen Haushaltes erschwere etwa die Nachbarschaftshilfe zur Betreuung von Kindern. Zudem fehle eine klare Perspektive für die Öffnung der Schulen. Forderungen der FDP - wie kostenlose FFP2-Masken für besonders gefährdete Gruppen oder Schnelltests für den Zugang zu Pflegeeinrichtungen - seien zu oft zurückgewiesen worden. "Wir wissen heute: Vieles von dem, was möglich ist, kam zu spät." Die Verzögerungen etwa bei der Verteilung von Schutzmasken und Schnelltests in Altersheimen seien "Ausdruck eines Politikversagens mit Ankündigung".

Die deutsche Politik sei stark darin gewesen, von den Bürgern Opfer zu verlangen, Disziplin und Regeln einzufordem. Sie habe sich von anderen Staaten aber den Rang ablaufen lassen, wenn es um kreative Lösungen und unternehmerisches Handeln gegangen sei. Er rief vor diesem Hintergrund zu einer grundlegenden Erneuerung Deutschlands auf, um gestärkt aus der Corona-Pandemie herauszukommen. "Was hält uns davon ab, aus dieser Pandemie herauszuschauen, welche Potenziale in unserem Land bestehen, sie zu nutzen", warb Lindner für mehr Gründergeist und wies auf die Erfolgsgeschichte der Biontech-Gründer Ugur Sahin und Özlem Türeci hin.

Das Unternehmen aus Mainz hatte den ersten zugelassenen Corona-Impfstoff entwickelt. Wenn man sich in Deutschland die Technologie-, Fortschritts- und Unternehmerfreundlichkeit, die Offenheit für kluge Köpfe aus aller Welt, die Bildungsgerechtigkeit oder die Teilhabe von Frauen ansehe, müsse man feststellen: "Biontech ist nicht repräsentativ für Deutschland, wie es ist." Denn immer noch sei Bildung vor allem vom Elternhaus abhängig, seien Frauen in der Forschung unterrepräsentiert und Menschen mit Zuwanderungsgeschichte hätten oft schlechtere Jobchancen. Aber die Biontech-Erfolgsgeschichte sei "eine Inspiration für Deutschland, wie es sein könnte. Was hält uns davon ab, genau das nun zu verwirklichen?"

Derzeit sei Deutschland "kein fortschrittsfreundliches Land mehr", sagte Lindner hinter dem die Worte "Mut, Freiheit, Weltoffenheit, Toleranz" aufleuchteten. Es gebe schnell Mehrheiten gegen, selten für etwas. Ginge es beispielsweise in der Gentechnik nach dem Willen der Grünen, so der Liberale, hätte es den Biontech-Impfstoff nie gegeben. Es brauche stattdessen ein "technologiefreundliches Klima" und Vertrauen in die Wissenschaft, auch für die Entwicklung von emissionsarmen Automobilantrieben, Klimaschutztechnologien und der Digitalisierung. Deutschland sei auch kein unternehmensfreundliches Land. Lindner vermisst außerdem ein Einwanderungsgesetz.  

"Für die hellsten Köpfe der Welt" sei Deutschland aufgrund von Bürokratie, Steuern und Alltagsrassismus wenig attraktiv: "Toleranz und Respekt sind Anforderungen, die wir an Zuwanderer stellen müssen - denen wir aber auch selbst gerecht werden müssen." Auch bei der Gleichstellung von Frauen und dem föderal zerklüfteten Bildungssystem fernab digitaler Didaktik sei Deutschland von Standards, "die sich an den besten in der Welt orientieren", weit entfernt. Lindner betonte, Deutschland stehe nach der Pandemie vor einer "Phase der Neugründung".

Er rief dazu auf, die Impulse, die man durch die Erfahrungen in der Pandemie erhalte, zu nutzen, "um unser Land grundlegend zu erneuern." Deutschland werde sich seinen Platz auf der Weltbühne neu erarbeiten müssen. Dazu müsse Deutschland auf weniger Bürokratie und mehr Wachstum setzen. Deutschland müsse die Quellen seines Wohlstandes erneuern und die Sozialsysteme reformieren: "Wir müssen uns auch neu der inneren Liberalität unserer Gesellschaft nach einer Pandemie mit einer starken Polarisierung der Gesellschaft vergewissern."

Bei der Bundestagswahl im September gehe es um "die Neu-Verhandlung der Grundlagen unseres Landes in den 20er-Jahren." In diesem Jahr, in dem so viele Wahlkämpfe anstehen, gehe es um eine Grundsatzentscheidung, sagte der Chef der Freien Demokraten. "Es ist eine Grundsatzentscheidung, ob Sie eher daran glauben, dass die Zukunft unseres Landes in einer neuen Staatsfrömmigkeit besteht, bei der wir alle Entscheidungen an Regierungen abtreten; oder in der Rückbesinnung auf die Freiheitsliebe und den Gedanken der Eigenverantwortung."

Für diejenigen, die auf die Freiheitsliebe vertrauten, sei die FDP der richtige "Ansprechpartner". Zwar sei er "sehr vorsichtig mit definitiven Aussagen", doch würde er Finanzminister werden, werde es keine Steuererhöhungen und Schulden als Staatsphilosophie geben, so Lindner in seinem Schlussappell an die Wähler.

Attacken auf den politischen Gegner überließ er seinen Vorrednern, den Baden-Württembergern Michael Theurer und Hans-Ulrich Rülke, die am 14. März bei der Landtagswahl die erste Bewährungsprobe für die Liberalen zu bestehen haben. Die beiden hatten jeweils gut 10 Minuten für ihre Reden. Theurer piesackte die potenziellen Jamaika-Partner: "Die Grünen sind keine Partei des technologischen Fortschritts." Und: "Die CDU-geführte Bundesregierung mit Bundeskanzlerin Merkel an der Spitze zerstört die deutsche Automobilindustrie durch die einseitige Fokussierung auf batteriebetriebene Elektromobilität und durch Kaufprämien. Und die CDU-geführte EU-Kommission mit Ursula von der Leyen an der Spitze besorgt den Rest", sagte Theurer und verwies auf die geplante Euro-7-Abgasnorm.

Die CDU habe sich in ihrer Rolle als Juniorpartner abgefunden, während die Grünen unter Winfried Kretschmann als ruhendem Pol nur den Eindruck von Bräsigkeit vermittelten. Auch Spitzenkandidat Rülke nannte die grün-schwarze Regierungsbilanz nach fünf Jahren "äußerst bescheiden." Die Koalition werde nur vom Machtanspruch der Partner zusammengehalten. "In keinem Politikbereich ist es wesentlich vorangegangen, in allen wichtigen nationalen und internationalen Politikfeldern haben wir an Boden verloren", sagte Rülke.

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