FDPEU-Austritt der Briten

In der Brexit-Debatte gibt Berlin ein verheerendes Bild ab

Alexander Graf LambsdorffAlexander Graf Lambsdorff nimmt das politische Chaos in London, Berlin und Brüssel ins Visier
28.06.2016

Im Gespräch mit "FAZ.net" hat der Vizepräsident des EU-Parlaments, Alexander Graf Lambsdorff, das konzeptlose Vorgehen der Bundesregierung nach dem Brexit-Referendum gerügt. Berlin gebe im Angesicht dieser Herausforderung ein verheerendes Bild ab, weil die Regierung sich offensichtlich völlig uneinig darüber sei, wie sie sich verhalten sollte, kritisierte er. "Aus dem Finanzministerium wird ein Strategiepapier an die Presse gespielt, die Bundeskanzlerin will das Problem wie immer aussitzen, ihr Außenminister dagegen will am Tag nach dem Referendum zusammen mit den EWG-Kollegen den Austrittsprozess beschleunigen. Desorganisierter geht es nicht."

Dabei gebe es viel zu tun. Handlungsbedarf sieht Lambsdorff nicht nur bei der konkreten Umsetzung der Brexit-Entscheidung, sondern auch bei der strategischen Ausrichtung des europäischen Projekts. "Etwa bei der Vertiefung der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, der Terrorbekämpfung, der Sicherung der Außengrenzen und der Steuerung der Zuwanderung; alles Themen, bei denen Großbritannien bisher auf der Bremse stand", gab er zu bedenken. Jetzt gebe es auf diesen Feldern die Chance, Fortschritte zu machen, "die wegen der britischen Blockadehaltung bislang nicht möglich waren", erläuterte der Freidemokrat.

Scharfe Kritik übte Lambsdorff am Brexit-Verfechter und Ex-Bürgermeister der Stadt London, Boris Johnson. Mit seinen Versprechen und Vorstellungen für die Zeit nach dem EU-Ausstieg zeige Johnson, dass er in einem Paralleluniversum lebe. "Er gaukelt den Menschen Dinge vor, die vollkommen illusorisch sind. Die Brexit-Befürworter hatten offenkundig keinen Plan für den Tag ihres Sieges", stellte Lambsdorff fest. Er mahnte: "Hier sieht man, was passiert, wenn unverantwortlicher Populismus sich Bahn bricht."

Lesen Sie hier das gesamte Interview.

Herr Lambsdorff, London hat es auf einmal gar nicht mehr eilig mit dem Brexit – glauben Sie, dass der britische Austrittsantrag überhaupt noch kommt?

Ich rechne nicht damit, dass der Antrag am Dienstag auf dem Gipfel vorlegt wird, sondern frühestens im Oktober, wenn der neue Premierminister im Amt ist, oder sogar noch später. Das zeigt eine typische Fehlkonstruktion der europäischen Verträge auf. Die Mitgliedsstaaten haben sie so angelegt, dass immer der betroffene Staat das Heft des Handelns in der Hand hat wie jetzt Großbritannien. Alle anderen 27 Mitglieder, die Union und ihre Institutionen sind dem ausgeliefert. Deswegen muss der Artikel 50 für zukünftige Fälle geändert werden. Denn es kann ja nicht sein, dass ganz Europa darauf wartet, bis Großbritannien seine internen Probleme geregelt hat.

Davon, dass die Briten einen Austrittsantrag einreichen werden, sind Sie aber überzeugt?

Großbritannien ist das Mutterland des Liberalismus, aber auch des Fair-Play-Gedankens. Und Fairplay heißt ganz klar: Nach diesem Referendum sind Parlament und Regierung in London daran gebunden, das Votum der Wähler zu respektieren. Es muss aber auch ein Fairplay gegenüber den europäischen Partnern geben. Großbritannien darf uns nicht ein oder zwei Jahre lang mit der Frage beschäftigen, ob es die Notifizierung einreicht oder nicht. Wenn die Briten den Antrag aber einreichen, sollte man daraus keine Strafaktion machen, sondern fair miteinander umgehen – in dem Bewusstsein, dass wir uns auch weiterhin als Partner brauchen werden.

Könnte sich ein neuer Premier – oder das britische Parlament – nicht doch über das Referendum hinwegsetzen, wenn die Stimmung noch mehr kippt?

Man kann viel über das Referendum diskutieren; über seine Modalitäten oder die Frage, ob die Schwelle von 50 Prozent für eine so wichtige Entscheidung ausreichend war. Aber für mich ist klar: Wenn die Bevölkerung abgestimmt hat und die Brexit-Befürworter mehr als eine Million Stimmen Vorsprung haben, dann ist es für die demokratischen Institutionen eines Landes schwer möglich, diese Entscheidung nicht umzusetzen. Und wenn Parlamentsabgeordnete jetzt auf einmal gegen die Mehrheiten in ihren Wahlkreisen stimmen würden, könnten Sie gleich ihren Rücktritt einreichen, das hätte unweigerlich Neuwahlen zur Folge. Ich halte auch das Gedankenspiel Schottlands, den Brexit per Veto zu verhindern, nicht für zielführend. Es wäre vermutlich das Ende des etablierten Parteiensystems in Großbritannien und ein Triumph für UKIP, wenn der Brexit jetzt doch nicht umgesetzt würde.

Welches Druckmittel haben Brüssel und Straßburg, sollte London die Einreichung des Austrittsantrags tatsächlich weiter verzögern?

Wenn es sich abzeichnet, dass der Fairplay-Gedanke sich politisch nicht durchsetzt, dann gibt es nur ein Druckmittel: Der Rest der Union könnte das Referendum zur Notifizierung erklären und sagen: Diese Abstimmung kommt der Erklärung Großbritanniens gleich, aus der EU austreten zu wollen. So etwas müsste dann allerdings auch vor dem Europäischen Gerichtshof Bestand haben, der den Vertrag auslegt. Und ich könnte mir vorstellen, dass eine britische Regierung, die nicht austreten will, eine solche Beschlussfassung sofort anfechten würde. Dieses Szenario bedeutet deshalb große Unsicherheit auf beiden Seiten des Kanals, an der niemandem gelegen sein kann.

Das heißt, die EU kann nichts weiter tun als abzuwarten?

Ein anderes Druckmittel sehe ich nicht. Die Briten müssen jetzt schnell einen verlässlichen Fahrplan vorlegen, wie sie sich die Beziehungen zur EU nach dem Brexit vorstellen, und dann müssen ernsthafte Gespräche geführt werden. Nur so können wir die Ungewissheit schnell aus der Politik, aus den Märkten und aus den Köpfen der Bürger in England und Europa bekommen. Denn die Verhandlungen sind ja immens umfangreich: Es muss eine große Zahl an Handelsabkommen ausgehandelt werden, wofür die Briten noch nicht einmal genügend Unterhändler haben. Die Stimmgewichtung im Rat muss überarbeitet werden, weil die 29 Stimmen der Briten entfallen, der Wegfall der 73 britischen EU-Parlamentarier muss berücksichtigt werden. Jeder verlorene Tag ist da einer zu viel.

Trotzdem bremst Kanzlerin Merkel in der Brexit-Frage gerade eher, während die EU auf einem schnellen Prozedere besteht – deutet sich da ein fundamentaler Dissens in der Handhabung der Krise an?

Den Konflikt gibt es nicht so sehr zwischen Brüssel und Berlin, sondern in Berlin selber. Die Bundesregierung gibt doch gerade ein verheerendes Bild ab, weil sie sich offensichtlich völlig uneinig ist, wie sie sich verhalten soll. Aus dem Finanzministerium wird ein Strategiepapier an die Presse gespielt, die Bundeskanzlerin will das Problem wie immer aussitzen, ihr Außenminister dagegen will am Tag nach dem Referendum zusammen mit den EWG-Kollegen den Austrittsprozess beschleunigen. Desorganisierter geht es nicht. Für mich ist aber auch nicht entscheidend, ob die Verhandlungen formal im Juli oder im Oktober beginnen, sondern, wann sie spätestens beendet sind. Das muss der Termin der nächsten Europawahl im Mai oder Juni 2019 sein. Ich kann mir nicht vorstellen, dass es im Vereinigten Königreich nach diesem Referendum noch einmal eine Europawahl geben kann.

EU-Kommissionspräsident Juncker plant als Reaktion auf den Brexit eine Vollendung der Währungsunion – ist das der richtige Schritt angesichts der massiven Kritik, die viele Mitgliedsstaaten gerade am zu großen Einfluss Brüssels und dem Beschnitt ihrer nationalen Souveränität haben?

Die Währungsunion ist ohne jeden Zweifel unvollendet, aber ich würde die Frage trotzdem nicht zu hoch hängen. Denn es gibt viele andere Themenfelder, auf denen genauso Handlungsbedarf besteht: Etwa bei der Vertiefung der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, der Terrorismusbekämpfung, der Sicherung der Außengrenzen und der Steuerung der Zuwanderung; alles Themen, bei denen Großbritannien bisher auf der Bremse stand. Jetzt gibt es auf diesen Feldern vielleicht die Chance, Fortschritte zu machen, die wegen der britischen Blockadehaltung bislang nicht möglich waren.

Boris Johnson, tagelang abgetaucht, schrieb am Montag in einem Gastbeitrag, für die Briten werde sich auch bei einem Brexit im Grunde nichts ändern: Zugang zum europäischen Binnenmarkt, Arbeitnehmerfreizügigkeit, aber eine nationale Kontrolle der Einwanderung. Ist es für Sie denkbar, dass Großbritannien tatsächlich weiter die Vorteile der EU genießen kann, von seinen Pflichten aber befreit wird?

Ich habe den Artikel gelesen und er zeigt, dass Boris Johnson in einem Paralleluniversum lebt. Er gaukelt den Menschen Dinge vor, die vollkommen illusorisch sind. Die Brexit-Befürworter hatten offenkundig keinen Plan für den Tag ihres Sieges. Hier sieht man, was passiert, wenn unverantwortlicher Populismus sich Bahn bricht. Und Boris Johnson ist von allen derjenige, dem man die größten Vorwürfe machen muss, weil er sowohl von seiner Ausbildung als auch von seiner Erfahrung sehr genau wissen musste, was er tut. Leuten wie Nigel Farage kann man ja fast noch zugutehalten, dass sie nicht überblicken konnten, was sie da losgetreten haben.

Ist es denkbar, dass ein Nicht-EU-Mitglied Großbritannien künftig Sonderrechte erhält wie etwa die Schweiz oder Norwegen?

Das Modell Schweiz will in Brüssel niemand mehr, Ende der Durchsage. Das sind mehr als 100 bilaterale Verträge, für die man 30 Jahre verhandelt hat und die jetzt durch das von den Schweizer Populisten lancierte Referendum gegen die Masseneinwanderung zerstört wurden. Und das Norweger Modell? Wenn die Briten das norwegische Modell wollen, bitte sehr. Dann befolgen sie demnächst die Binnenmarktgesetzgebung ähnlich wie Norweger, ohne sie aber beeinflussen zu können, und müssen dafür noch in die EU einzahlen sowie die Freizügigkeit bei der Arbeitnehmerzuwanderung zulassen. Wenn sie dazu bereit wären, hätte ich nichts dagegen, aber auch das ist illusorisch. Am wahrscheinlichsten ist noch das kanadische Modell, angelehnt an das CETA-Abkommen. CETA aber gewährt keinen vollen Marktzugang bei Finanzdienstleistungen, die für die Briten ein Hauptinteresse sind. All jenen, die auch in Deutschland immer so leichtfertig an der EU herummeckern, sollte es deshalb eine Lehre sein: Das Fehlen des Binnenmarktes wird für die britische Wirtschaft ausschließlich sehr negative Auswirkungen haben.

Wäre es überhaupt denkbar, dass Schottland als unabhängiger Staat EU-Mitglied ist und Großbritannien nicht mehr?

Natürlich, aber auch das ist zuerst eine innerbritische Frage. Sollte Schottland sich aber wirklich für ein zweites Referendum entscheiden und dann unabhängig werden, könnte es sich selbstverständlich um eine Mitgliedschaft in der EU bewerben. Und weil Schottland bereits seit 1973 das gesamte europäische Recht anwendet, wären es vermutlich sehr unkomplizierte und schmerzfreie Verhandlungen und Schottland könnte nach kurzer Zeit problemlos der Union beitreten.

Auch die Rechtspopulisten in den Niederlanden, in Frankreich und auch in Deutschland fordern bereits Referenden in ihren Ländern; der griechische Ministerpräsident Tsipras bringt indirekt Nachverhandlungen mit der EU ins Spiel. Wie groß ist die Ansteckungsgefahr des Brexits tatsächlich?

Viele Länder wie Ungarn oder Polen, die sich zunehmend kritisch gegenüber der EU äußern, wollen nicht wirklich aus der Union aussteigen und sind außerdem Netto-Empfänger, für die ein Austritt gravierende wirtschaftliche Folgen hätte. Und nach den Erfahrungen im Völkergefängnis des Warschauer Pakts sehe ich niemanden in Mittel- und Osteuropa, der die freiheitliche EU ernsthaft wieder verlassen will. Auch in Ländern wie Dänemark, das ein Nettozahler ist und eine durchaus skeptische Einstellung zur EU hat, gibt es in der Bevölkerung großen Rückhalt für die Union. Wenn man es ein bisschen genauer betrachtet, bleibt von der Ansteckungsgefahr also nicht mehr viel übrig. Dass der Brexit der Anfang vom Ende der europäischen Union sein könnte, sehe ich nicht.

Kann Großbritannien 2017 noch wie geplant die europäische Ratspräsidentschaft übernehmen?

Das wird man am Dienstag auf dem EU-Gipfel sehen. Ich hielte es aber für sehr unpassend, wenn die Briten die Ratspräsidentschaft noch übernehmen wollten. Ich erwarte eigentlich, dass David Cameron erklärt, die Präsidentschaft nicht mehr antreten zu wollen.

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