BUSCHMANN-Gastbeitrag: Eine Koalition gegen unsere Lebenslügen
Das FDP-Präsidiumsmitglied und Erster Parlamentarischer Geschäftsführer der FDP-Fraktion Dr. Marco Buschmann schrieb für „Zeit Online“ den folgenden Gastbeitrag:
Nach mehreren Wochen geräuschvoller Sondierung zwischen CDU, FDP, Grünen und CSU fragen sich viele Wähler: Was könnte die Idee sein, die so verschiedene Parteien zusammenführen könnte? Eine Antwort wäre: Das lagerübergreifende Bündnis könnte die Lebenslügen beenden, in denen sich die verschiedenen politischen Lager in Deutschland teilweise so bequem eingerichtet haben. Eine Jamaika-Koalition könnte einen Modernisierungsschub auslösen, den unser Land dringend braucht. Die Aufgaben liegen auf der Hand. Hier folgen drei Beispiele:
Seit Jahrzehnten leben wir mit der Lebenslüge, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei. Ein Flickenteppich verschämter Improvisationsregelungen, die sich um ein klares Konzept drücken, führte zeitweise zu einer absurden Lage: Bei qualifizierten Einwanderern, auf die wir volkswirtschaftlich dringend angewiesen sind, regeln, steuern und drosseln wir gegen unsere eigenen Interessen so sehr, dass sie sich häufig anderen Ländern zuwenden; bei der humanitär bedingten Zuwanderung, die uns teilweise einen enormen Kraftakt abverlangt hat, haben wir die Tore so weit geöffnet, dass wir zeitweise die Kontrolle völlig aus der Hand gegeben haben. Das muss sich dringend ändern.
Wir benötigen daher ein unbürokratisches Einwanderungsgesetzbuch: Wer über Qualifikationen verfügt, die für unseren Arbeitsmarkt hilfreich sind, bekommt schnell und unbürokratisch verlässliche Aufenthaltstitel und eine Arbeitserlaubnis. Wer als Flüchtling in Not ist, erhält zügig einen Aufenthaltsstatus, der dem Grundsatz folgt, dass das Ende der Notsituation im Herkunftsland auch das Ende des Aufenthaltsrechts in Deutschland markiert. In ihrer Heimat individuell Verfolgte genießen auch weiterhin Asyl nach Artikel 16a Grundgesetz. Der dogmatische Stellungskrieg zwischen Grünen und CSU um die sogenannte Obergrenze darf eine Lösung nicht verhindern. Denn die Zahl der anerkannten Verfahren nach Artikel 16a Grundgesetz ist so niedrig – in den Jahren 2014 und 2015 waren lediglich zwischen 2.000 und 3.000 Verfahren erfolgreich –, dass sie nicht ernsthaft einer Lösung im Wege stehen können.
Die bildungspolitische Debatte thematisiert seit Jahrzehnten Organisationsfragen und glorifiziert den deutschen Bildungsprovinzialismus, weil dieser angeblich den Wettbewerb zwischen den Schulsystemen der Länder fördere. Tatsächlich findet zwischen den Bundesländern kein echter Leistungswettbewerb statt. Über die Qualität herrscht Intransparenz. Die Schulen werden so stark gegängelt, dass die Kompetenz im Lehrkörper nicht mobilisiert, sondern demotiviert wird. Die stark abweichenden Standards behindern Mobilität, weil ein Kind in der achten Klasse eines bremischen Gymnasiums Probleme haben wird, in der gleichen Klasse eines bayerischen Gymnasiums Anschluss zu finden. Dieser Zustand ist grotesk. Denn in einer Welt der Veränderung ist keine Ressource so wertvoll wie Bildung. Sie entscheidet über Innovationskraft und soziale Mobilität – sprich: die zentralen Fragen für den wirtschaftlichen Erfolg und die Leistungsgerechtigkeit in unserem Land.
Daher ist es nötig, dass der Bund mehr Verantwortung bei der schulischen Bildung übernimmt. Denn die umfassende (und kostspielige) Modernisierung des Bildungssystems würde Länder und Kommunen allein überfordern. Die Finanzierung muss daher eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe werden. Das muss einhergehen mit einheitlichen und anspruchsvollen Bildungsstandards in Deutschland insbesondere bei den Schulabschlüssen. Damit daraus kein träger Zentralismus erwächst, müssen wir den Schulen messbare Ziele vorgeben, ihnen aber Art und Weise der Erreichung dieser Ziele offenstellen. Die Entscheidungsspielräume der Schulen müssen spürbar gesteigert werden. Dafür muss unser Bildungsföderalismus grundlegend reformiert werden. Insbesondere muss das Kooperationsverbot fallen.
In Deutschland pflegen viele die Lebenslüge, dass das Erneuerbare-Energien-Gesetz einen effektiven Beitrag zum Klimaschutz leiste. Die Experten stimmen darin überein, dass effektiver Klimaschutz bedeutet, den CO2-Ausstoß auf der Welt zu reduzieren. Tatsächlich bezahlen die Stromkunden mit allem Drum und Dran jedes Jahr 35 Milliarden Euro für Subventionen und Steuern nach dem EE-Gesetz. Die CO2-Einsparung der letzten Jahre beträgt aber quasi null.
Diese Nutzlosigkeit ist aber kein Naturgesetz. Das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung hat 2016 etwa 2,8 Milliarden Euro in internationalen Klimaschutz investiert. Die Erfolge sind beachtlich: Diese Programme werden 240 Millionen Tonnen CO2 einsparen. Das entspricht dem jährlichen Ausstoß von über 100 Kohlekraftwerken. Wäre es daher nicht sinnvoller, hier mehr zu tun, als sich in nationalen Debatten zu verhaken? Sinnvoll wäre es auch, den CO2-Zertifikatehandel in Europa zügig auf alle Sektoren, in denen CO2 ausgestoßen wird, zu übertragen. Das setzt wirtschaftliche Anreize für die Vermeidung und befreit zugleich die Kreativität des Wettbewerbs. Das zeigt, dass es Wege gibt, wie das Klima besser geschützt werden kann, als durch das Führen von nationalen Symboldebatten.
Ein Bündnis, das durch seine Außergewöhnlichkeit die Fähigkeit aufbringt, solche Lebenslügen zu beenden und in Deutschland all das anzustoßen, was unter dem Mehltau der großen Koalition liegen geblieben ist – das könnte die Idee von Jamaika sein.