25.11.2019FDPFDP

BEER: Nur ein bisschen konservativ. Manchmal.

Die Frankfurter Neue Presse druckte folgenden Gastbeitrag der stellvertretenden Bundesvorsitzenden Nicola Beer aus dem Sammelband "Was ist konservativ?" ab:

"Heimat. Natur. Werte. Landschaft. Bodenständigkeit. Tradition. Traditionen. Beständigkeit. Treue. Glaube. Familie. Freunde. Der Stammtisch. Konservativ sein heißt: am Bewährten festhalten. Das Bewährte hoch zu halten. Sich an ihm festzuhalten. Es ist ein Lebenskompass. Ein Korsett. Nicht immer einengend. Kein Panzer, aber doch ein Gerüst. Eine Selbstverständlichkeit des Lebens. Mehr noch, eine Lebensidee. Ihr kann man folgen und wichtiger noch, diese Lebensidee kann man weitergeben. Weitergeben wie die Familientradition – von Generation zu Generation. Der Konservative ist bei sich zu Hause, weil er weiß, was sein zu Hause ist. Und weil er wünscht, weiter zu geben, was er von seinen Vätern (und Müttern – nur, ist diese Erwähnung noch konservativ?) ererbt hat. Der Konservative bewahrt sein Erbe, oft das gesellschaftliche Erbe, in der Gegenwart. Er konserviert eben.

Der Liberale sieht das nicht nur kritisch. Er hat Verständnis für die Konservativen, aber kein Verständnis für eine konservative Gesellschaft – weder von rechts noch von links. Ja, auch links lauern Fundgruben wahrhaft konservativen Potenzials, genauer: traditionellen Reflexen verhaftet, nicht nur auf Gewerkschaften beschränkt. Der Liberale aber will Aufbruch. Er will Tempo. Er will Veränderung. Er will den gesellschaftlichen Status quo verändern. Er will, dass jeder seines Glückes Schmied ist, nicht weil er abstammt, sondern weil er leistet. Vorwärts drängt. Sich und die Welt erfindet. Neugierig und aufgeschlossen, neugierig auf alles und jeden. Der Liberale sieht sein gesellschaftliches Vorbild im Individuum, im Einzelnen, der sich und die Gegenwart neu erfindet. Dem das Neue, die Veränderung, die Bewegung, die Weite, die Lust am Bessermachen ein Zuhause bietet. Der mit seinem Pfund wuchert, wie die Evangelisten es beschrieben. In Verantwortung für sich, seine Nächsten und die Gesellschaft.

Der Konservative weiß. Er ist sich und seiner Rolle sicher. Sein Selbstverständnis stammt aus seinem Selbstbild, das von der Tradition geprägt ist. Der Liberale zweifelt. Sein Selbstbild beginnt mit dem klassischen „dubio“. Sein Selbstverständnis ist das „cartesische“ Ich. Sein Lebensmotto: „Cogito ergo sum“. Ich denke, also bin ich. Nichts Selbstverständliches ist ihm gewiss. Nichts Sicheres ist ihm heilig. Und Heiliges a priori in seiner Absolutheit suspekt. Der Konservative sucht die Gewissheit im Selbstverständlichen. Der Liberale zweifelt an der Gewissheit.

In jeder Gesellschaft wird diese Dichotomie offensichtlich. Zum einen die Gewissheiten, die Heilserwartungen, zum anderen Poppers Idee einer „offenen Gesellschaft“. Offen heißt: offen für alle. Offen für Aufstieg. Offen für Lebensentwürfe. Offen für Unterschiede. Offen für Religionen und Atheismus. Offen für Bildung und Wissenschaft und für Technik. Für Tüftler und Erfinder, für Dichter und Denker. Offen vor allem für den Selbstzweifel, für die wissenschaftliche Methode von „trial and error“, für Versuch und Irrtum. Die offene Gesellschaft verharrt nicht, sie sucht immer neue Wahrheiten. Nie eine Wahrheit. Nie eine Gewissheit. Damit unterscheidet sich das liberale Weltbild vom linken, vom konservativen, vom grünen Weltbild. Sie alle wissen, was für die Menschen gut ist – wir nicht. Deswegen sind sie konservativ – und wir liberal.

Wenn es denn so einfach wäre. Denn natürlich bin ich eine Herzens und Kopfliberale. Und ich bin keine Konservative. Wenn – ja wenn nicht auch ich es selbstverständlich fände, meine Heimat zu lieben. Meine Familie. In die Kirche zu gehen. Zu glauben. An ein Mysterium, an Gott – den ich nicht der Falsifikation unterwerfen kann. An dem ich nicht zweifle, bei dem „trial and error“ nicht gilt. Bei dem ich mich nicht cartesianisch im Denken vergewissere, sondern mit tiefer Herzensliebe glaube. Und seine Unmittelbarkeit im Gottesdienst, im Gebet, im Gesang empfinde und erfahre. Da bin ich konservativ–wie auch bei manchen, bei immer mehr Traditionen, die ich heute wärmer empfinde als früher. Ich will sie bewahren. Ich will konservativ sein.

Und doch ist mein Lebensprinzip nicht konservativ. Da heißt es raus, raus ins Leben, raus in die Fremde, raus ins Abenteuer, raus in die Entdeckung, raus ins Wagnis. Und die Rückkehr von der Expedition Leben? Sie ist ein Zurück nach Hause. In den Garten. Zu den Vögeln, die am Morgen tschirpen. Zu Blumen und Bäumen. Zum Mann und zu den Kindern. Und sonntags in die Kirche, in den Gottesdienst. Zum Vertrauten, wo 228 Nicola Beer ich meine Kraft wieder auftanken kann. Und das mich erdet. Meine innere Lebensmitte sichert.

Ja ich bin eine Liberale. Ich stehe ein für eine offene Gesellschaft. Und für eine offene Welt. Ich will eine Gesellschaft, die sich verpflichtet auf gemeinsame Grundüberzeugungen, aber nicht auf Kirche und Staat. Ich möchte, dass wir miteinander und nicht nebeneinander leben. Ich halte Parallelgesellschaften für existenzbedrohend, und das frühere scheinbar reibungslose niederländische „Polder Modell“ für anfällig. Aber ich verstehe, wenn Menschen, die flüchten mussten, die auswandern wollten, zu Hause an ihrem früheren Leben festhalten wollen. An Traditionen. An religiösen Überzeugungen. Am altbekannten Essen. An der Sprache. An den Liedern. Aber – und da ich bin fordernd liberal – außerhalb der eigenen vier Wände gelten Rahmen und Regeln der offenen Gesellschaft, die nur offen bleiben kann, wenn sich alle zu ihr bekennen – Konservative und Sozialisten, Traditionalisten und Modernisten.

Es gibt den schönen Satz des erzkonservativen früheren bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß, die Konservativen seien an der Spitze des Fortschritts. Natürlich gibt es fortschrittliche Konservative. Aber das Schöne am Konservativen ist, er nährt sich aus der Vergangenheit. Doch das reicht nicht. Wir Liberale nehmen die Konservativen wie sie sind. Wir haben auch konservative Züge in uns, die wir nicht leugnen. Aber: Wir stehen an der Spitze des Fortschritts. Wir lieben das Tempo der Veränderung. Wir lieben die Sprünge. Den gesellschaftlichen Aufstieg von unten nach oben. Das Neue, das Unbekannte. Die Reformation im umfassenden Sinn. Das Bessere, zum Wohl möglichst vieler. Das reizt. Das reizt mich. Und deswegen bin ich nicht konservativ. Nur ein bisschen. Manchmal.

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