BEER-Gastbeitrag: Mutige Russen
Berlin. Die FDP-Generalsekretärin NICOLA BEER schrieb für das Online-Portal „Tichys Einblick“ (Donnerstag) den folgenden Gastbeitrag:
Wieder ist eine mutige Stimme der russischen Opposition verstummt. Wieder ein russischer Oppositioneller ermordet. Boris Nemzow, ein Kämpfer für Freiheit und Demokratie, ein Kritiker der aggressiven Politik Putins, ein Gegner von Korruption und Nationalismus, der auch russische Gefallene in der Ukraine öffentlich betrauerte. Es gibt viele mutige Menschen wie Boris Nemzow in Russland.
Noch vor wenigen Wochen ging ich selbst über die Brücke, auf der Boris Nemzow nun exekutiert wurde. Mir kommen wieder die Menschen in den Sinn, denen ich bei meinem Besuch in Moskau begegnet bin, deren Ernsthaftigkeit und Mut mich so beeindruckt hat. Der Blick auf den Konflikt in der Ukraine, die täglichen Nachrichten über Tote, Panzerbewegungen, Waffenstillstände und deren Missachtung haben die Menschen in den Hintergrund gerückt, die tagtäglich in Russland für eine andere Politik, eine demokratische Gesellschaft, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit und Wissenschaftsfreiheit kämpfen. Politiker, Künstler, Wissenschaftler, Lehrer, Journalisten, Studenten, Nachbarn. Nicht alle so bekannte Persönlichkeiten wie Boris Nemzow, nicht alle in der großen Öffentlichkeit. Aber jeder mit seinem eigenen persönlichen Einsatz für mehr Freiheit, mehr demokratische Teilhabe der Menschen in diesem großen schönen Land. Jeder trotzt auf seine Art der ständig präsenten Überwachung, der perfiden Kontrolle, den zahlreichen Einschüchterungsversuchen. Alles ist den „Vertretern der Macht“, wie die Menschen die Repräsentanten von Regierung und Verwaltung nennen, suspekt.
Der Lehrer, der zusammen mit Künstlern kulturelle Bildung für die Kinder seiner Schule organisiert. Die Nachbarschaftsinitiative, die mehr Mitsprache in der Gemeinde erreichen will. Der Professor, der eine Konferenz mit ausländischen Wissenschaftlern plant. Die Journalistin, die im Internet einen Weg sucht, jenseits der Propaganda der staatlich gelenkten Medien zu schreiben. Der Ladeninhaber, der ohne Schutzabgaben sein Geschäft betreiben will. Die Aktivisten von NGOs wie Memorial oder Golos. Keine Veranstaltung, die nicht beobachtet wird, bei der nicht Protokolle erstellt werden über Anwesende, Wortmeldungen, kritische Äußerungen. Selbst heimliche Filmaufnahmen sind nicht selten.
Orte und Räumlichkeiten, für die Veranstaltungen angekündigt sind, werden von Unbekannten eigens mit Spitzel- und Überwachungsinstrumenten präpariert. In dieser Atmosphäre bewegen sich mutige Menschen, denen die ständige Bespitzelung bewusst ist, die sich jedoch nicht einschüchtern lassen. Obwohl die Einstufung als „ausländischer Agent“, „Sondersteuerprüfungen“, Maßregelungen vom Chef oder willkürliche Verhaftungen aus unbekanntem Anlass drohen. Mich hat in den Gesprächen mit diesen Menschen beeindruckt, wie viele sich trotzdem laut und deutlich äußern.
Um etwas zu verändern. Weil sie ihr Land lieben, ihre Familien. Weil sie weiter jeden Tag in den Spiegel schauen wollen. Weil sie nicht hinnehmen wollen, dass ihr Land ausblutet, dass die, die es sich irgendwie leisten können, das Land verlassen. Weil sie eine andere Zukunft wollen. In Freiheit und Verantwortung. Obwohl sie die Drohgebärden der „Macht“ jeden Tag spüren. Wie viel mehr Mut braucht es, in diesem Land für die Freiheit zu kämpfen – die eigene und die der anderen. Wie würden wir reagieren? Welchen Weg zwischen Anpassung und Widerstand würden wir wählen? Wie mutig wären wir selbst?
Der Mut dieser Menschen verdient Respekt und Unterstützung. Jede Relativierung von Putins Handeln, der von ihm organisierten Zensur und Bespitzelung, seiner Unterdrückung der eigenen Bevölkerung und der Nachbarländer ist ein Schlag in das Gesicht derer, die täglich alles riskieren, um sich diesem Regime entgegen zu stellen. Gerade von uns, die wir es so viel leichter haben. Daraus erwächst eine Verantwortung: diese Menschen sichtbar zu machen. Damit sie weniger gefährdet sind. Damit sie der Mut nicht verlässt. Damit sich etwas verändert. Für sie.
Verstärken wir also ungeachtet der leisetreterischen Beschwichtiger den Dialog mit diesen Menschen, mit den zahlreichen russischen Vereinigungen, Initiativen und Organisationen, die den Austausch mit uns suchen. Lassen wir sie nicht allein; sie kämpfen für einen Traum, der bei uns Wirklichkeit ist und den jeder Mensch auf dieser Welt leben können muss.