FDPDas aktuelle Interview

Wir sind im Vorgebirge

Christian LindnerChristian Lindner
15.06.2015

Im Interview der Woche mit dem „Deutschlandfunk“ sprach FDP-Chef Christian Lindner über die jüngsten Erfolge der Partei, die Große Koalition, Griechenland und die politische Konkurrenz. „Wir stehen nicht mehr ganz am Anfang, aber sicherlich liegt der größte Teil der Anstrengung noch vor uns“, erklärte Lindner zu den Wahlen in Hamburg und Bremen. Mit Blick auf die kommenden Wahlen machte er deutlich: „Eine Schlüsselwahl ist Baden-Württemberg. Übrigens auch Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt sind für uns wichtig, da rechnen wir uns Chancen aus.“

Die Große Koalition sei „ein Zweckbündnis, das weitgehend seine Gemeinsamkeiten verbraucht hat“, erklärte der FDP-Chef. Die Wahlversprechen aus dem Koalitionsvertrag seien abgearbeitet – wichtige Zukunftsaufgaben nicht, kritisierte er. „Wir müssten jetzt eigentlich daran gehen, die Voraussetzung auch für zukünftigen Erfolg zu legen, durch Investitionen in die Bildung, in die digitale Infrastruktur.“

Zu den Verhandlungen über ein letztes Hilfspaket für Griechenland erklärte Lindner: „Die größte Gefahr heute ist nicht das Ausscheiden Griechenlands, ich sehe die größte Gefahr heute darin, dass Griechenland im Euro verbleibt und zwar unter den falschen Bedingungen.“ Er verdeutlichte, dass es in Griechenland nicht um Sparmaßnahmen gehe, sondern um „Fragen der Marktöffnung, der Privatisierung, der Bekämpfung der Korruption, Durchsetzung eines Steuerwesens. Also Dinge, die den mittelständischen Betrieben dort helfen könnten und den Arbeitnehmern.“

Christian Lindner im "Deutschlandfunk"

Frage: Herr Lindner, zwei vergleichsweise erfolgreiche Wahlen liegen hinter Ihnen, ein Parteitag ohne Zwietracht auch. Die Umfragen zeigen nach oben und die nächsten Wahlen, bis dahin ist es noch ein bisschen hin – Zeit für einen langen Urlaub?

LINDNER: Ich mache Urlaub, in der Tat. Hinter uns liegt eine ganz intensive Phase nicht nur des Wahlkampfs und all dessen, was man nach außen sieht, sondern vor allen Dingen der Diskussion innerhalb der FDP. Wir haben einen ganz ausgedehnten Prozess der Erneuerung gemacht. Dieser beginnt bei den Inhalten und unserem Selbstverständnis und zuletzt kamen dann auch Äußerlichkeiten, wie der Auftritt oder eine andere Form der Wahlkampfführung hinzu. Und jetzt, in diesem Sommer, …

Frage: Also das ist jetzt so ein Durchatmen?

LINDNER: Ja. Jetzt in diesem Sommer mache ich 14 Tage frei in der Sonne, mit meiner Frau.

Frage: Ist die FDP über den Berg?

LINDNER: Es gibt eine erste Richtungsanzeige, dass die Art, wie wir die FDP erneuern, Erfolg verspricht, dass die Menschen wieder bereit sind, der FDP einen Vertrauensvorschuss zu geben. Aber ich würde nicht sagen, dass wir über den Berg sind, ich würde eher das Bild gebrauchen, dass wir im Vorgebirge sind. Also wir stehen nicht mehr ganz am Anfang, aber sicherlich liegt der größte Teil der Anstrengung noch vor uns.

Frage: Zeichnen Sie doch mal einen Kontrast zwischen der „alten“ FDP 2013 und der von heute.

LINDNER: Das möchte ich ungern machen, weil so schnell daraus eine Abrechnung wird mit dem, was vorher war, und das möchten wir nicht. Wir haben alle Verantwortung getragen für das Scheitern der FDP und wollen gemeinsam jetzt auch den Laden wieder flott machen. Ich will Ihnen sagen, wofür wir stehen, auch in aller Kürze: Nach meinem Eindruck haben wir eine Politik, die immer stärker auf die individuelle Freiheit zugreift, die den einzelnen Menschen abkassiert, bürokratisiert, bevormundet. Die Vorratsdatenspeicherung ist beschlossen worden, der Einzelne wird auch wieder bespitzelt. Und wir möchten stattdessen den einzelnen Menschen stark machen durch beste Bildung, Vertrauen in seine Schaffenskraft, auch dadurch, dass man ihm etwas von seiner Leistungsfähigkeit belässt für die eigenen Lebenspläne. Also den Einzelnen groß machen und nicht den Staat – das unterscheidet uns von anderen, eher sozialdemokratisch geprägten Parteien.

Frage: Die Umfragen zeigen generell nach oben, sie zeigen für Baden-Württemberg aber auch, dass der Einzug in den Landtag im kommenden Jahr alles andere als ein Selbstläufer ist. Ist der Erfolg zwingend für Ihr Unternehmen 2017 im Bund?

LINDNER: Eine Schlüsselwahl ist Baden-Württemberg. Übrigens auch Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt sind für uns wichtig, da rechnen wir uns Chancen aus. In Sachsen-Anhalt geht es darum, zu zeigen, dass die FDP eine gesamtdeutsche Partei ist. Es kann kein Dauerzustand sein, dass in den östlichen Bundesländern die Stimme der Freiheit im Parlament fehlt. Aber Baden-Württemberg ist sicherlich eine besondere Wahl. Wir waren immer im Landtag vertreten, wollen das auch weiter sein. Es gibt dort die Chance, auch einen Politikwechsel zu erreichen. Wir haben uns da was vorgenommen.

Frage: Was Sie sicher brauchen, ist 2017 der Wunsch des Wählers nach Veränderung. Die Große Koalition ist weitgehend geräuschlos gestartet, jetzt versucht Sigmar Gabriel, ein bisschen am Merkel-Teflon zu kratzen: NSA, BND, das war ein Feld, das er sich ausgesucht hat. In welchem Zustand sehen Sie das Regierungsbündnis aktuell?

LINDNER: Es ist ein Zweckbündnis, das ja weitgehend seine Gemeinsamkeiten verbraucht hat. Und all das, was man sich vorgenommen hat im Koalitionsvertrag, ist sehr überwiegend abgearbeitet. Ich frage mich, was jetzt kommt. Man merkt die steigende Nervosität. Und bedauerlicherweise bleiben ja ganz entscheidende Zukunftsaufgaben liegen. Natürlich, unser Land ist in einem exzellenten Zustand am Arbeitsmarkt, wir haben volle öffentliche und volle soziale Kassen, aber die deutsche Industrie investiert mehr im Ausland als im Inland. Wir profitieren von einem künstlich niedrigen Außenwert des Euro. Ich will damit sagen, wir müssten jetzt eigentlich daran gehen, die Voraussetzung auch für zukünftigen Erfolg zu legen, durch Investitionen in die Bildung, in die digitale Infrastruktur. Dadurch, dass auch Bürger und Unternehmen ihre persönlichen Pläne vorantreiben können, indem ihnen nicht alles genommen wird, durch niedrigen Zins und einen immer maßloser agierenden Fiskus – Stichwort „Erbschaftssteuer“ –, also da würde ich mir eine Zukunftsagenda in Deutschland wünschen. Und was wir erleben, ist – na ja – parteipolitisches Kleingeldwechseln bei der NSA-Affäre und ansonsten Wohlfühlstagnation.

Frage: Jetzt haben wir in dieser Woche zwei Themen erlebt, wo sich die Großen Koalitionen auch in den Ländern spalten: Die Vorratsdatenspeicherung wird von Sigmar Gabriel mitgetragen – an der SPD-Basis wird laut gegrummelt – und die Homo-Ehe. In beiden Fällen kann man, glaube ich, sagen, das wäre bei sozialliberal geführten Bundesregierungen anders gelaufen, oder?

LINDNER: Sie wollen über zwei Themen auf Koalitionsoptionen – arbeiten wir erst die Themen ab. Sie haben Recht, wir sehen die Vorhaben aus der Perspektive individueller Freiheit. Individuelle Freiheit bedeutet Privatheit, also kann es nicht eine anlasslose Speicherung von Ihren und meinen Kommunikationsdaten geben, zumal die Europäische Kommission ja Studien vorgelegt hat, nach denen die Vorratsdatenspeicherung noch nicht mal einen Gewinn an Sicherheit bringt. Deshalb hatte der Herr Maas Recht, als er lange gegen die Vorratsdatenspeicherung war. Bedauerlicherweise hat seine Hartnäckigkeit jetzt nicht bis zum Ende gehalten, respektive, er ist von seiner eigenen Parteiführung hier überrollt worden. Und bei der Frage der sogenannten „Homo-Ehe“: Aus der Perspektive der individuellen Freiheit muss es da natürlich einen Schritt geben. Wenn das erzkatholische Irland das vermag, dann muss das doch auch der Christlich-Demokratischen Union in Deutschland möglich sein, Zeichen der Zeit zu erkennen. Da wird doch nichts relativiert. Ich bin auch verheiratet und die Ehe zwischen meiner Frau und mir wird doch nicht relativiert dadurch, wenn andere, die füreinander Verantwortung übernehmen wollen und sich lieben, wenn die ebenfalls eine rechtliche Absicherung bekommen. Also, aus der Perspektive der individuellen Freiheit – das ist unser Gelenkpunkt, den wir wiedergefunden und freigelegt haben – kommt man bei den Fragen zu Ergebnissen. Und in beiden Punkten hat es jetzt hier mal zufällig eine Nähe vielleicht eher zur SPD gegeben, wäre sie bei der Vorratsdatenspeicherung nicht umgefallen. Dafür gibt es viele andere Fragen, da sind wir nicht einer Meinung, sobald es an Steuern und wirtschaftliche Freiheit geht.

Frage: Ich will noch bei dem Thema „Daten“ bleiben. Wenn wir uns den aktuellen Skandal angesichts des Hackerangriffs auf den Bundestag anschauen, was sagt das über das Verständnis von Datensicherheit, wenn in einer so entwickelten Industrienation wie in Deutschland, ein solches Parlament praktisch nackt dasteht?

LINDNER: Das macht mich sprachlos. Der Deutsche Bundestag wird systematisch mit kriminellen Methoden angegriffen und das ist möglich. Ich hätte das nicht für wahrscheinlich gehalten. Ich hätte da eine höhere Absicherung vermutet – das ist aber nicht der Fall. Es zeigt eines, Herr Remme, dass wir insgesamt noch nicht erkannt haben, welche Dramatik in jedem Lebensbereich mit der Digitalisierung verbunden ist: Es ist die Verwundbarkeit von Behörden, Unternehmen, aber auch kritischer Infrastruktur. Man kann sich ja auch vorstellen, dass möglicherweise solche Angriffe mal gegen Staumauern und die dortige Software eingesetzt werden oder gegen Kraftwerke und anderes mehr, Schadsoftware. Das ist eine Möglichkeit der elektronischen Kriegsführung – unser Land scheint darauf nicht hinreichend gerüstet zu sein. Digitalisierung ist ein Riesenfeld auch für ökonomische Chancen: Wo stehen wir bei der Schaffung eines europäischen digitalen Binnenmarktes? Wie verhalten ist der Ausbau der digitalen Infrastruktur in Deutschland? Selbst osteuropäische Länder sind weiter und schneller als wir – wir werden also abgehangen. Ja, und wo ist der rechtliche Rahmen, der Ihre und meine Privatsphäre schützt? Also das ganze Feld der Digitalisierung, das alles verändern wird, den Charakter einer neuen industriellen Revolution haben wird, also Umwälzungen, wie zuletzt vor 150 Jahren bewirken wird, das liegt in Deutschland nahezu brach offensichtlich.

Frage: Herr Lindner, kommen wir auf das Thema, das die Gemüter vermutlich im Moment so viel beschäftigt, wie kaum ein anderes: Griechenland und die Zukunft, wie es weiter geht in dieser Krise. Wir erleben Verhandlungen in Berlin und in Brüssel. Einem letzten Angebot folgt ein allerletztes Angebot und dann ein wirklich letztes Angebot.

LINDNER: Und dann noch eins.

Frage: Gibt es eine Alternative zu diesem Trauerspiel?

LINDNER: Ja, die Fortsetzung des Kurses, den Europa 2010 eingeschlagen hat. Damals wurde das Prinzip ausgegeben: „Hilfe, aber gegen Reformen“ oder „Solidarität mit einer Gegenleistung“, Rettungsschirme zeitweise, damit darunter marktwirtschaftliche Reformen nach Vorbild durchaus der Agenda 2010 abgeschlossen werden könnten.

Frage: Nichts wäre den Geldgebern lieber, aber die Reformen kommen nicht.

LINDNER: Dann muss man aber trotzdem eben konsequent dabei bleiben. Hilfe nur gegen Reformen – kommen keine Reformen, dann keine Hilfe. Ich glaube, dass die Lage sich verändert hat. Die Entscheidungen der Jahre 2010 und 2012, damalige Rettungspakete für Griechenland, ich würde sie heute mit meiner Partei wieder so treffen. Auch persönlich als Bundestagsabgeordneter, ich würde genauso votieren wie damals. Die Gefahr war zu groß, dass ein chaotisches Ausscheiden von Griechenland aus dem Euroraum einen Ansteckungseffekt für andere Volkswirtschaften hätte. Die politischen Wirkungen wären dramatisch gewesen, Deutschland und Frankreich hätten möglicherweise nicht mehr derselben Währungszone angehört. Es hat ja sogar eine sogenannte „Alternative“ gegeben, die genau das gefordert hat. Wo stünden wir da, angesichts der Spannungslage mit Russland oder der Situation im Nahen und Mittleren Osten? Heute ist die Lage aber eine andere. Heute ist die Lage, dass Portugal, Irland, die baltischen Staaten Fortschritte gemacht haben mit diesem Programm. Die Griechen wollen sich aus der Verantwortung stehlen mit der Regierung Tsipras. Würde man jetzt Herrn Tsipras Rabatt geben, wäre das ein Konjunkturprogramm für Linkspopulisten überall in Europa, zum Beispiel in Spanien. Also die größte Gefahr heute ist nicht das Ausscheiden Griechenlands, ich sehe die größte Gefahr heute darin, dass Griechenland im Euro verbleibt und zwar unter den falschen Bedingungen.

Frage: Stünde die Eurozone ohne Griechenland heute besser da?

LINDNER: Mit einem Griechenland, das sich Reformen verweigert, wird die Eurozone geschwächt und auch der Gedanke des europäischen Rechts, das wir gerade erst wieder geschärft haben.

Frage: Warum schaffen es die Geldgeber, die Bundeskanzlerin, nicht, glaubwürdig Fristen zu setzen?

LINDNER: Weil fiskalische Weichmacher unterwegs sind, die auch den Gedanken der marktwirtschaftlichen Politik in Zweifel ziehen.

Frage: Wen meinen Sie?

LINDNER: Ich meine Sigmar Gabriel, der ja auch bei Frankreich für mehr Flexibilität geworben hat, die Stabilitätsziele zu erreichen – Frankreich hat ja schon einen Rabatt bekommen. Übrigens, auch wir Deutsche haben mit der „Rente mit 63“ gezeigt, dass wir ganz gut dabei sind, dass eigentlich als richtig erkannte, aus Opportunismus mal schnell zu verraten. Das beobachte ich seit Herbst 2013, dass wir auf diese schiefe Ebene geraten sind. Und natürlich unternimmt Herr Tsipras jetzt entsprechende Versuche. Meine Sorge ist, dass sich das noch weiter beschleunigt dann, wenn der Internationale Währungsfonds möglicherweise ausscheidet aus der Reihe der Institutionen, die die Eurostabilisierung vorantreiben. Es war ein Anliegen der Freien Demokraten 2010, dass der IWF an Bord kommt. Das ist eine Institution mit, ich glaube, 188 Mitgliedern und der IWF ist an Regeln gebunden und an objektive Kennzahlen. Und den wollten wir reinholen, weil wir wussten, die Europäische Zentralbank wird nicht die Rolle der Bundesbank spielen, sondern hat eine andere Wahrnehmung ihres Mandats, leider – das ist bestätigt worden. Und weil wir gefürchtet haben, dass es, wenn nur die Europartner zusammenarbeiten, schnell zu Mauschelei kommt, wie wir sie schon mal hatten bei Schröder und Chirac. Und wenn der IWF geht, dann sind wir restlos ausgeliefert einer Politik der übermäßigen Schuldenaufnahme und Umverteilung.

Frage: Wie wichtig sind bei all diesen Fragen übergeordnete Gründe in der Richtung, dass Griechenland in einer sehr unruhigen Region in Südosteuropa an der Seite der europäischen Partner gehalten werden muss?

LINDNER: Das ist ein ganz wichtiges geostrategisches Argument. Deshalb ist mein Wunsch auch, dass Herr Tsipras eine 180-Grad-Wende abschließt, um dann in der Eurozone bleiben zu können. Es geht auch jetzt gar nicht um neue rigide Sparmaßnahmen, da ist doch viel bereits erreicht worden unter der Vorgängerregierung von der jetzigen Koalition dort. Das muss man aufnehmen, dann geht es um Fragen der Marktöffnung, der Privatisierung, der Bekämpfung der Korruption, Durchsetzung eines Steuerwesens. Also Dinge, die den mittelständischen Betrieben dort helfen könnten und den Arbeitnehmern.

Frage: Schön, aber wenn das so wichtig ist, dann weiß das ja Herr Tsipras auch.

LINDNER: Ja, aber offensichtlich will er sich das Leben leicht machen oder er kann sich innerhalb seiner Regierung nicht durchsetzen, weil er in Abhängigkeiten steht. Das mag alles so sein, wie es ist: Wir wünschen uns, Griechenland bleibt aus geostrategischen Gründen in der Eurozone. Die Voraussetzung aber ist, dass es sich an die Regeln hält. Denn machte es das nicht und gäbe es einen Rabatt, wäre doch die Situation Europas viel kritischer. Am Ende des Tages wäre das sogar ein Signal bis nach London, die erkennen würden: 'Auf dem Kontinent in der Eurozone und damit auch von starken Partnern der Europäischen Union wird Recht nicht ernst genommen, marktwirtschaftliches Gedankengut ist in der Defensive, also verabschieden wir uns'. Und der Brexit, das Ausscheiden Großbritanniens, wäre geostrategisch der Supergau. Kein Vergleich zu einem Ausscheiden Griechenlands aus der Eurozone.

Frage: Nehmen wir an, das mit dem zweiten Paket geht jetzt in den nächsten Tagen irgendwie dann über die Bühne, schnell wird sich dann die Frage nach einem dritten Hilfspaket stellen; in der Unionsfraktion gibt es Widerstand – natürlich nicht nur dort. Rechnen Sie damit, dass Angela Merkel in der Causa Griechenland über kurz oder lang die Vertrauensfrage stellen muss?

LINDNER: Ich schließe das nicht aus und denke, dass sie so versuchen würde, auch ihre Partei oder ihre Fraktion auf Kurs zu bringen. Ob das Ganze dann „Drittes Griechenlandpaket“ heißt oder ob das zweite nicht verlängert, aufgebohrt wird, wird sich dann zeigen. Aber auf jeden Fall wird der Deutsche Bundestag zu entscheiden haben. Und ich gehe davon aus, dass sie sicherlich alle Register ziehen wird, um dann auch im Parlament eine entsprechende Mehrheit zu erreichen, klar.

Frage: Themenwechsel: G7 oder Bilderberg – welches ist das problematischere Konferenzformat?

LINDNER: Weder noch.

Frage: Erklären Sie.

LINDNER: Ich halte es für sinnvoll und notwendig, dass die G7, also führende Wirtschaftsnationen, die auch ähnliche Werte teilen, dass die sich regelmäßig auch austauschen. Da ist nichts Unanständiges dran, ganz im Gegenteil: Wir brauchen mehr Dialog. Die einzige Kritik, die ich äußern würde, neben Details, wie die Bayerische Staatsregierung dort auch Geld der Steuerzahler eingesetzt hat, die einzige Kritik, die ich hätte, wäre, dass bedauerlicherweise Russland nicht dabei ist. Das hätte dort mit hingehört. Natürlich teilt Russland nicht westliche Werte, aber es macht auch keinen Sinn, dass sieben Nationen sich darüber unterhalten, wie böse Herr Putin ist. Es wäre sinnvoller gewesen, er ist dabei und würde auch damit konfrontiert werden. Und die Bilderberg-Konferenz – ich weiß, worauf Sie hinaus wollen –, die dieser Tage stattfindet, ist eine informelle, vertrauliche Zusammenkunft von Führungskräften aus Wirtschaft, Politik, Wissenschaft und Journalismus.

Frage: Sie waren mal dort, oder?

LINDNER: Ich war mal dort. Und man tauscht sich „off the record“ aus, ganz ungeschützt. Alle Verschwörungstheorien, es wäre eine Weltregierung, da gäbe es eine Befehlsausgabe, das ist wirklich amüsant. Also, ich glaube, zu dem Zeitpunkt als ich da war, war auch der Chef der Portugiesischen Sozialistischen Partei anwesend – also der und ich haben sicherlich eine ganz geringe Gemeinsamkeit in politischen Fragen gehabt.

Frage: Als Ertrag muss nach G7 das Stichwort „Dekarbonisierung“ herhalten, gleichzeitig gibt es in der Bundesregierung Streit um die Kohleabgabe. Wie passt das zusammen?

LINDNER: Gar nicht. Und ich halte den Weg, auf den Deutschland sich begeben hat, für außerordentlich gefährlich. Die Nationen, die dort bei der Dekarbonisierung der Weltwirtschaft bis zum Ende des Jahrhunderts mitmachen, nutzen ja andere Energieträger als wir. Um es klar zu sagen: Unser Problem in Deutschland ist, dass wir dabei sind, ein zweites Hauruck-Projekt nach dem Ausstieg aus der Kernenergie voranzutreiben, nämlich den Ausstieg aus der Verstromung von Kohle. Und es mag nicht populär sein, aber es ist meine feste Überzeugung: Ein zweites Mal werden wir als Freie Demokraten nicht schweigend einem solchen gigantischen Experiment zusehen. Die Folgen des Verzichts auf die Kernenergie, die sind ökonomisch und physikalisch in den Stromnetzen technologisch noch nicht verdaut und jetzt kommt das nächste Riesending. Wir sollten erstmal das eine abschließen; also zwei Alleingänge gehen nicht. Konkreter Vorschlag aus meiner Sicht wäre zu sagen, dass wir die deutschen Klimaziele zurücknehmen auf die bereits sehr ehrgeizigen europäischen Klimaschutzziele bis 2020 und 2030. Und dass wir also unser Tempo reduzieren, weil wir ja schon in einer anderen Frage einen ganz eigenen Weg gehen bei der Kernenergie. Also sollten wir da nicht versuchen auch in einer zweiten Frage noch der Musterschüler zu sein, das vernichtet volkswirtschaftliches Vermögen. Und die Strompreise sind bereits jetzt die zweithöchsten in Europa, irgendwo ist eine Grenze erreicht.

Frage: Sie hören das Interview der Woche im Deutschlandfunk. Wir sprechen mit Christian Lindner, dem Vorsitzenden der FDP. Herr Lindner, Sie haben letzthin gesagt, außenpolitisch sind Sie mit dieser Bundeskanzlerin weitgehend zufrieden. Ich frage mich: Warum? Mit Putin ist man in der Sackgasse, mit allen Folgen für den UN-Sicherheitsrat. In Nordafrika herrscht das Chaos. Der IS wird immer stärker. Und ein Flüchtlingskonzept in dem Sinne gibt es nicht.

LINDNER: Sie beschreiben zutreffend die enormen Herausforderungen. Man könnte die Liste sogar noch weiter fortsetzen auf der Weltbühne. Die Lage ist ausgesprochen unruhig. Ich glaube, dass die Zeit 1990 bis 2008, also die letzte Finanzkrise, dass das auch eher die Ausnahme sein wird und nicht die Regel für die Zukunft. Also es wird auf der internationalen Bühne auf unabsehbare Zeit Krisenmanagement nötig sein. Und man kann über jede einzelne Frage diskutieren, aber mit der Linie Deutschlands, vertreten durch die Bundeskanzlerin, international Verantwortung zu übernehmen, zu den Werten von Marktwirtschaft, Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, den Menschenrechten zu stehen, dem Völkerrecht zu stehen, beispielsweise im Verhältnis zu Russland, daran habe ich keine grundsätzliche Kritik zu äußern. Meine Kritik an der Politik der Bundesregierung macht sich eher fest an der Innenpolitik, also Mindestlohn, Mietpreisbremse, Verlängerung des Solidaritätszuschlags, Energiepolitik, Unterlassungen bei Bildung, digitaler Infrastruktur und anderes mehr.

Frage: Jetzt ist ein Ende dieser Ukrainekrise nicht zu sehen. Pew ist ein renommiertes Institut in den Vereinigten Staaten. In keinem anderen Land hat das Ansehen der NATO, einer aktuellen Umfrage zu Folge, so gelitten, wie in Deutschland. Wie erklären Sie sich das?

LINDNER: Ein hartes Wort, aber mit einer gewissen Naivität, damit erkläre ich mir das. Wir sind auf das westliche Bündnis angewiesen. Wir haben über Jahrzehnte davon profitiert, dass wir zusammen mit den Vereinigten Staaten und unseren europäischen Verbündeten ein System der kollektiven Sicherheit aufgebaut haben. Und wir leben nicht in einem Status des Endes der Geschichte, dass man das nicht mehr bräuchte, sondern ganz im Gegenteil, das ist auch weiter notwendig. Die NATO ist kein Offensivbündnis, wie manche Propaganda aus Moskau deutlich macht und versucht zu verbreiten. Die NATO ist immer nur ein defensives Bündnis gewesen. Die Nationen in Osteuropa haben sich in freier Selbstbestimmung für den Weg Richtung Westen, also ökonomisch in die Europäische Union und sicherheitspolitisch in die NATO entschieden. Das ist gegen niemanden gerichtet, sondern es ist nur ein Beitrag zur Stabilität und Sicherheit. Und deshalb erlaube ich mir den Kontrapunkt: Wenn das Ansehen der NATO in Deutschland gelitten haben sollte, es hat auch etwas mit Naivität und plumpem Antiamerikanismus zu tun, der gelegentlich von der politischen linken Seite verbreitet wird. Dem schließe ich mich nicht an. Und dieser plumpe Antiamerikanismus findet ja seine Fortsetzung über die Sicherheitspolitik bei so großen Zivilisationsprojekten, wie dem Transatlantischen Freihandel und anderem mehr.

Frage: Was schätzen Sie an Sahra Wagenknecht?

LINDNER: Intelligenz und Streitbarkeit. Und die Demokratie braucht ja Meinungsstreit. Und ich finde es gut, dass es Menschen gibt in der Politik, die mit voller Überzeugung auch für ganz andere Werte einstehen als ich selbst. Ich glaube aber, dass das Meinungsspektrum eben innerhalb des Bundestages recht schmal geworden ist. Also CDU/CSU, SPD und Grüne sind in den meisten Fragen einer Meinung, und dann gibt es die Abweichler von der Linkspartei – was anderes fehlt. Sie ahnen, worauf ich hinaus will.

Frage: Ich frage das, weil Frau Wagenknecht voraussichtlich an die Fraktionsspitze rücken wird, zusammen mit Dietmar Bartsch. Gregor Gysi macht Platz, er verabschiedete sich. Hat er sich in all den Jahren als eine prägende Figur, zumindest in seiner Partei, wenn nicht darüber hinaus, Verdienste erworben?

LINDNER: Ja, hat er. Ich schätze Gregor Gysi persönlich sehr. Er hat auch bei harten Auseinandersetzungen – ich habe oft genug mit ihm in Medien oder auf Veranstaltungen diskutiert –, er hat Fairness und auch Humor in der Auseinandersetzung nie vergessen. Und ich kann nur sagen, dass auch nach dem Ausscheiden aus dem Deutschen Bundestag, die Fraktion der Linken bei bestimmten organisatorischen Fragen – die haben Sitzungssäle von uns übernommen – sich sehr fair verhalten hatten. Das ist das Verdienst von Gregor Gysi – gewiss ein Mann mit Format.

Frage: Schauen wir noch kurz auf die AfD – 2013 der Shootingstar, jetzt heillos zerstritten. Die FDP hat seinerzeit über 400.000 Stimmen an diese Partei verloren. Beobachten Sie schon einen Rückmarsch?

LINDNER: Wir haben vor allen Dingen an die Union und an Nichtwähler verloren, ein paar gingen auch an die AfD. Bei der Bundestagswahl 2013, als man die AfD noch nicht kannte, habe ich Verständnis dafür, dass jemand versucht hat, darüber die Hoffnung zu haben, man könne ein marktwirtschaftliches Signal senden. Aber wer heute noch die AfD gut findet oder, ich sage mal, letzte Woche die AfD noch gut fand und nur abgeschreckt ist vom Streit innerhalb dieser Partei, dem kann ich kein Angebot machen. Denn in der Sache steht die AfD für das genaue Gegenteil von uns: Mehr Verständnis für Herrn Putin als für Herrn Obama; die AfD hat völkische Ideale und Ideen. Ein Leitbild, wie man zu leben hat, vertritt diese Partei. Während wir für einen wohlverstandenen Individualismus plädieren, weil wir Vertrauen in den einzelnen Menschen haben. Also das ist was ganz anderes als wir. Wer das gut fand, kann uns nicht gut finden. Ich habe deshalb, weil es erste Anfragen auf der kommunalen Ebene von Mandatsträgern der AfD gibt, meiner Partei klar gesagt, dass die Aufnahme von ehemaligen Mandatsträgern der AfD in die FDP die absolute Ausnahme nach Einzelfallprüfung sein muss. Wir sind nicht das Auffangbecken für enttäuschte Rechtskonservative. Wir sind eine liberale Partei und wir suchen Überzeugungstäter und keine Trittbrettfahrer.

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