LINDNER-Rede: Wir sind Freie Demokraten
Bearbeitete Mitschrift der Rede des FDP-Bundesvorsitzenden CHRISTIAN LINDNER bei der Dreikönigskundgebung 2015:
Sehr geehrte Damen und Herren,
liebe Gäste,
herzlich willkommen bei den Freien Demokraten. Ich wünsche Ihnen für das neue Jahr Gesundheit und alles Gute – auf dass Ihnen all das gelingt, was Sie sich für die kommenden zwölf Monate vorgenommen haben.
Ich freue mich, dass wir wieder ein volles Haus haben. Sie wissen, im vergangenen Jahr fand Dreikönig ohne Sternsinger statt, weil die geglaubt hatten, die FDP gäbe es nicht mehr. Das neue Jahr fängt mit einem neuen und ermutigenden Schritt zur Wiederaufrichtung der FDP an – denn in diesem Jahr waren die Sternsinger wieder da. Vielen Dank!
1.
Schauen wir auf Deutschland, so sehen wir ein starkes und sehr zufriedenes Land. Aber unser aller Leben wird sich in den nächsten Jahren verändern – durch Alterung und Zuwanderung, durch Digitalisierung und Globalisierung. Das internationale Umfeld ist unübersichtlich geworden. Hinter der Fassade der Prosperität wachsen deshalb Verunsicherung und Ängste. Angst führt zu Sicherheitsdenken und Besitzstandswahrung. Leider mitunter auch zu Neid und Ressentiments.
Die Politik reagiert auf diese ambivalente Stimmung in unserer Gesellschaft: Die schwarz-rot-grüne Sozialdemokratie sucht ihr Heil im Staat. Mehr Umverteilung, mehr Bürokratie, mehr Fürsorge sollen Sicherheit versprechen. Die anderen versprechen ein Zurück in Zeiten, in denen man sich im Nationalstaat verschanzen konnte.
Die einen teilen die Angst vor Veränderung – deshalb verändern sie nichts. Die anderen missbrauchen Ängste, um auf dieser Angstwelle in die Parlamente zu surfen.
Uns geht es hier heute nicht um uns. Keine Partei ist ein Selbstzweck – auch nicht diese große liberale. Es geht nicht um individuelle Karrieren – da könnten wir auch keine sicheren bieten. Es geht um unser Land, dessen Horizont schmaler geworden ist. Deutschland ist heute stark. Aber für seine Zukunft brauchen wir mehr. Mehr Tatkraft, mehr Optimismus und mehr Freiheitsliebe!
Wir wollen an die Menschen appellieren, genau das wiederzufinden. Wir wollen ihnen das Vertrauen in ihre eigene und unsere gemeinsame Tatkraft zurückgeben. Mögen die anderen auch die Wutbürger mobilisieren, wir glauben an eine Mehrheit der Mutbürger in Deutschland!
2.
Hinter uns liegt ein Jahr der intensiven Debatte über unsere Tradition, über die Erwartungen freiheitsliebender Menschen an ihre Partei und über die Gründe, die zu unserem Scheitern geführt haben.
Dieser Prozess war einzigartig breit und intensiv. Wir hatten über 250 Veranstaltungen. Über 15.000 Mitglieder der FDP haben sich beteiligt. Eine solch offene Debatte hat es in der FDP nie zuvor gegeben – kaum je auch in einer anderen Partei.
So wie mancher außerhalb der FDP kommentiert hat, wir arbeiteten zu wenig die Vergangenheit auf und wo bliebe denn das ganz neue Programm, so hat manches Mitglied bemängelt, wir beschäftigten uns zu stark mit uns selbst und im Grunde sei doch alles richtig gewesen. Ich bin hingegen stolz auf diese Debatte, denn sie hat manches offenbart, was uns bis in das vergangene Jahr hinein regelrecht gefesselt hat:
Unsere letzte Regierungsbeteiligung im Bund haben unsere Führungskräfte und unsere Parteibasis gänzlich unterschiedlich bilanziert. Die einen haben viele einzelne Erfolge im Blick, die anderen sehen vor allem ein Scheitern in einer einzelnen Frage. Ein Jahrzehnt haben wir die Entbürokratisierung des Steuerrechts zu unserer Kernforderung erklärt. Und nach dem Triumph bei der Bundestagswahl 2009 haben wir dennoch nicht das Finanzministerium gegriffen. Mehr noch: Nach der nordrhein-westfälischen Landtagswahl im Mai 2010 hat die Bundeskanzlerin die große Steuerreform abgesagt – ohne unseren Widerspruch. Damals war ich selbst bereits Mitglied des Präsidiums. Eines kann ich heute für mein politisches Leben beschwören: Ein solcher Fehler passiert mir kein zweites Mal. Wir wollen gestalten, wir sind deshalb fähig zum Kompromiss. Aber es gibt eine Grenze. Ist sie überschritten, dann darf man nicht einen anderen das Fähnlein der FDP einrollen lassen, sondern dann haben wir mit wehenden Fahnen und Salut von Bord zu gehen! Die Selbstachtung lassen wir uns nie wieder nehmen.
Und es gab auch eine Zögerlichkeit, bestimmte Überzeugungen öffentlich zu vertreten. Weil sie Vorurteile gegen die FDP bedienen könnten; oder weil irgendeine vermeintlich FDP-nahe Wählergruppe sich beschwert fühlen könnte; oder weil es eine Debatte innerhalb der FDP geben könnte; oder aus sonst welchen Gründen.
Das hat uns unfrei gemacht: die unaufgearbeitete Vergangenheit und die Furcht vor dem Urteil anderer. Das hat uns Unabhängigkeit im Urteil genommen. Den Mut zu freiheitlicher Politik genommen. Wer aber Menschen für Freiheit begeistern will, der muss sich zuerst einmal selbst befreien!
3.
In einer Rede zum Jahresauftakt schaut der Vorsitzende traditionell auf das zurückliegende politische Jahr. So würde ich das normalerweise auch tun.
Zum Beispiel:
Ich würde darüber sprechen, dass die große Koalition den flächendeckenden Einheitslohn beschlossen hat, der tief in unsere Tarifpolitik eingreifen wird. Er ist aus besten sozialen Motiven beschlossen worden. Aber nun wird prognostiziert, dass hunderttausende Einstiegsjobs zerstört werden könnten. Die SPD-Arbeitsministerin meint dazu, um diese Arbeitsplätze sei es nicht schade. Da hat der Zynismus auf der Kabinettsbank platzgenommen: Denn mit jedem einzelnen Arbeitsplatz, der verloren geht, wird Deutschland nicht sozialer, sondern weniger sozial!
Ich würde einige Zeit über die sich rasch beschleunigende Spirale von Staatsintervention sprechen. Die EZB kauft Staatsanleihen. Die EU-Kommission will privaten Investoren mit einem Milliardenfonds die Haftungsrisiken abnehmen. Griechenland droht die Gegenleistung für Solidarität zu verweigern – nämlich Reformen. Staatsanleihen in den Bankbilanzen werden vom Staat immer noch als risikolos bewertet. All das ist weniger Verantwortung in einer Zeit, die mehr Verantwortung und mehr Haftung braucht. Europa braucht nicht mehr Staatswirtschaft, sondern wieder funktionierenden Wettbewerb, damit Staaten wie Griechenland und Italien auch über steigende Zinsen zu Reformen motiviert werden.
Vor allem würde ich heute über den Soli sprechen. Uns ist versprochen worden, dass er bis 2019 auslaufen wird. Davon spricht nun keiner mehr. Die Kreativität der Politik konzentriert sich darauf, wie er am besten im Steuerrecht vor den Bürgern versteckt werden kann – statt Wort zu halten. Ich finde: Solange Milliardenkonzerne wie Google oder Amazon auf ihre in Deutschland erzielten Gewinne so gut wie keine Steuern zahlen, solange verbietet sich allein die Debatte über die Fortsetzung der Belastung von Mittelstand und Bürgern!
So würde ich das normalerweise noch 75 Minuten fortsetzen – Abarbeiten an der großen Koalition. Schwarz-Rot gestaltet aber keine Zukunftsfragen. Würden wir uns nur auf die Abgrenzung in aktuellen Fragen konzentrieren, dann wären wir ja genauso kurzsichtig wie die. Und genau das sollten die Freien Demokraten nicht sein!
Außerdem habe ich am Wochenende gelesen, was der Chefredakteur des Magazin CICERO über unser Dreikönigstreffen geschrieben hat. Christoph Schwennicke: „Lindner wird beim Dreikönigstreffen bemängeln, dass es nur noch sozialdemokratische und sozialistische Parteien im Deutschen Bundestag gibt. Und dass deshalb eine wirtschaftsliberale Kraft namens FDP wieder dringend da rein muss.“ Der Mann hat recht – und deshalb dürfen wir das heute als bekannt voraussetzen.
Ich werde diese Rede also nicht halten. Weil das alles Ausdruck einer Ritualisierung ist. Wenn ich gesagt habe, wir müssten uns selbst befreien, dann gilt das auch für den Parteivorsitzenden. Immer stehen wir in der Versuchung, uns vor allem am politischen Gegner abzuarbeiten. Mit so einer gewissen „Allein gegen die Mafia“-Rhetorik gegenüber unseren Mitbewerbern.
Wir sind eine traditionsreiche Partei. Die wesentlichen Grundfragen der Bundesrepublik haben wir mitgeprägt. Aber die Unionsparteien auch. Mag man den aktuellen Kurs missbilligen, die Konservativen von Adenauer bis Kohl haben sich um Deutschland verdient gemacht. Mit den Sozialdemokraten haben wir die neue Ostpolitik verwirklicht und das Streben nach sozialer Gerechtigkeit mag mich in den Ergebnissen nicht überzeugen, ein anerkennenswertes Motiv ist es schon. Die Grünen haben das ökologische Bewusstsein unserer Gesellschaft gestärkt, auch wenn ich so einiges als totalitär empfinde. Wir haben oft über die Schwächen und Fehler der anderen gesprochen. Man spricht aber nur über die Schwächen anderer, wenn man sich seiner eigenen Stärke nicht bewusst ist. Wer Respekt will, muss auch anderen Respekt zollen können. Als Partei der Meinungsfreiheit muss die FDP schon im Stil wieder einen Unterschied machen!
4.
Parteien sind kein Selbstzweck. Auch diese hier nicht. Deshalb haben wir uns während des vergangenen Jahres nicht gefragt, WIE kommt die FDP wieder in den Deutschen Bundestag. Sondern WARUM braucht Deutschland eine liberale Partei. WARUM haben Theodor Heuss und andere nach dem Zweiten Weltkrieg eine Freie Demokratische Partei gegründet? WARUM sind wir selbst einmal Freie Demokraten geworden – und nicht Christ- oder Sozialdemokraten?
Wir sind zurückgegangen an die Quellen unserer Überzeugung. In meinem persönlichen Fall war es stark verbunden mit einem Lebensgefühl. Ich habe das dieser Tage schon einmal berichtet. Ich habe als Schüler den Weg zu den Freien Demokraten gefunden. Ich bin richtig aktiv geworden, als ich mit 18 Jahren meine erste eigene, selbst gemietete Wohnung bezogen habe.
Erinnern Sie dieses Gefühl noch? Das Gefühl der Unabhängigkeit? Und die Vorfreude auf das, was jetzt noch alles kommen kann? Das ist ein Lebensgefühl! Es hat nichts mit Beruf oder Einkommen oder Alter oder Geschlecht zu tun. Es ist die Liebe zur Freiheit. Ich bin überzeugt, dass viele Menschen dieses Gefühl teilen – aber dass unsere Gesellschaft insgesamt zu wenig davon hat!
Der Schriftsteller Franz Kafka erzählt uns von einem Mann, der sein Leben lang vor einer Tür sitzt und sich nicht traut, hineinzugehen, weil ein Wächter in der Nähe steht. Kurz vor dem Tod des Mannes sagt ihm der Wächter: Ich schließe diese Tür jetzt ab, sie war die ganze Zeit nur für Dich bestimmt. – Der Mann war frei, aufzustehen und die Tür zu durchschreiten. Frei zu sehen, was hinter der Tür möglich ist. Aber ihm fehlte der Mut, diese Freiheit zu leben.
Ich bin überzeugt: Jeder einzelne hat es in der Hand: Veränderung, Chancen, Aufbruch. Der Mensch ist frei, wenn er vom Getriebenen zur treibenden Kraft wird. Unser Auftrag: Stärken wir den Glauben der Menschen an sich selbst!
Denn wir glauben an die Kraft und Energie des Einzelnen. Wir glauben daran, dass es immer eine Möglichkeit gibt. Niemals sollen „Ja, aber...“ und Co die Oberhand behalten. Wenn andere den Bürgern sagen: „Das kannst Du nicht“ und „Das darfst Du nicht“ sagen wir: „Klar kannst Du das!“
Das Ziel der Freien Demokraten war seit Theodor Heuss, dem Einzelnen mehr Gewicht und eigene Stärke zu verleihen. In Zeiten, in denen die Regierung von „kleinen Leuten“ spricht, in denen wirtschaftliche Machtballung, große Veränderungen und eine ausgreifende Bürokratie die Menschen klein zu machen drohen, ist das wichtiger denn je. Deshalb müssen wir zurück zum Kern dessen, was unsere Überzeugung ausmacht: Wir machen DICH größer – und nicht den Staat.
Liberale glauben, dass die beste Zeit Deutschlands und auch Europas noch vor uns liegt. Diese Gewissheit ist quasi in der liberalen DNA. Freie Demokraten sprechen für alle, die sich noch nicht mit dem Status Quo abgefunden haben, sondern noch vorhaben, mehr aus ihren Chancen und den Möglichkeiten unseres Landes herauszuholen.
Doch, und lassen Sie mich dies unmissverständlich sagen: wir glauben nicht, dass diese besseren Zeiten von selbst kommen. Wir glauben nicht an ein magisches Füllhorn, das durch Zauberhand die Rentenkassen wieder auffüllt, eine Zauberhand, die den deutschen Formularwald lichtet oder einen Wohltäter, der mutwillig kaputtgemachte Arbeitsplätze wieder aus dem Nichts stampft.
Wir glauben, dass diese Veränderungen dann und nur dann passieren werden, wenn wir als Individuen und als Land neue, bessere Wege zu gehen wagen, wenn wir bremsende Gewohnheiten ablegen. Zurückfallen geht schnell – der Weg nach vorne ist immer ein Weg der tausend klugen Schritte.
Die FDP geht also nicht den Weg, ein modisches Liberalismus-light-Produkt anzubieten. Im Gegenteil ist unser Weg, die Dosierung an Liberalismus in Programm und Auftreten zu erhöhen – Wir wollen nicht FDH – sondern FDPur!
5.
Was macht den einzelnen Menschen größer? Was ist die Quelle von Sicherheit, in Zeiten, in denen wenig gewiss ist? Seit Ralf Dahrendorf wissen wir, dass Bildung die eigentliche soziale Frage ist. Sie ist der Schlüssel für die Zukunft der Gesellschaft. Als Preußen am Boden lag, war die Humboldt’sche Bildungsreform das Kernstück der gesamten Staatsreform. Die liberale Erzählung beginnt nicht mit dem Steuerrecht. Beginnen wir die liberale Erzählung von heute an mit dem Kapitel der Bildung und Emanzipation des Einzelnen. Weil sich die Geschichte der Aufklärung in jeder Generation neu wiederholen muss.
In Nordamerika sind die Ivy-League-Hochschulen mit Milliarden-Stiftungsvermögen die Kaderschmieden für künftige Nobelpreisträger. In China schließen jedes Jahr sieben Millionen Menschen ein Hochschulstudium ab. Und in Deutschland wird über die Abschaffung von Noten und Schulformen debattiert. Vielfach ohne Konzept und Finanzierung wird das Experiment der Inklusion behinderter Kinder und Jugendlicher begonnen. Die Qualität unseres Bildungssystems entscheidet über unsere Leben. Der DIHK spricht von „German Mittelmaß“ in der Bildung. Wenn wir uns damit zufrieden geben, dann werden wir zukünftig auch nur noch mittelmäßig leben.
Wir haben uns gefragt, was unser Ehrgeiz sein soll. Manche haben gewarnt, dass wir nicht zu ambitioniert in der Zielbeschreibung werden dürften. Hier im Publikum sitzt Berthold Leibinger, einer der Hidden Champions, der Weltmarktführer aus dem Mittelstand. Fragen wir ihn, ob sein Anspruch nicht auch sein könnte, einen mittleren Tabellenplatz zu beanspruchen. Das reicht doch. Nein, wenn wir Exportweltmeister sein wollen, wenn wir jedem Menschen das Vorankommen erleichtern wollen, dann muss unser Anspruch sein, dass Deutschland wieder die weltbeste Bildung erreicht!
Das erfordert eine nationale Kraftanstrengung, ein deutsches Mondfahrtprojekt. Es geht dann nicht weiter wie bisher: 16 Länder stehen im Wettbewerb, wer welche pädagogische Mode am bürokratischsten umsetzt. Nach jedem Regierungswechsel geht es linksrum oder rechtsrum. 60 Prozent der Lehrer beklagen nach Umfragen, dass sie zu wenige Gestaltungsmöglichkeiten im Unterricht haben. Das schafft Frust. Wenn wir den Anspruch ernst nehmen, das beste Bildungssystem der Welt zu wollen, dann muss die FDP als erste Partei deshalb mit einer heiligen Kuh brechen – auch wenn die Debatte für uns selbst schmerzhaft ist, weil wir unsere bisherige Haltung sehr verändern müssen: Die Schulen und Hochschulen, die Lehrer und Professoren, brauchen mehr Freiheit – aber wir brauchen weniger ideologisch geprägte Politik in den Ländern. Wenn wir mit China und den USA konkurrieren wollen, dann muss weltbeste Bildung das Schlüsselprojekt des Gesamtstaates werden! Das wäre die Bildungsrevolution, die wir brauchen!
So wie bisher werden wir die Herausforderungen verfehlen, dessen bin ich mir sicher. Wenn ich in meine alte Schule zurückkehre, dann ist alles wie es war. Jetzt ist das bei mir nicht so lange her. Das Schlimme ist: Hermann Otto Solms würde nahezu die gleiche Erfahrung machen. Ein Vater, ein führender deutscher Internet-Unternehmer mit viel internationaler Erfahrung, erzählte mir neulich fassungslos, dass sein Sohn jetzt am Gymnasium Medienkunde habe: Die Kinder haben aus der Tageszeitung Artikel ausgeschnitten. Viele von Ihnen lesen Bücher auf dem Tablet – ihre Kinder und Enkel schleppen aber immer noch kiloweise Bücher. Auf dem Schulhof ist Zukunft, wenn die Schüler über die neusten Apps für das Smartphone sprechen – und dann kehren sie im Klassenraum in die Kreidezeit zurück. Unser Bildungssystem muss in der Gegenwart ankommen – in Methoden und Ausstattung. Die vernetzte Schule, eLearning und das Schul-Tablet für jeden Schüler – das ist keine Science Fiction, sondern das wird andernorts in wenigen Jahren die Realität sein. Das ist es teilweise schon. Und wir kämpfen noch mit dem Unterrichtsausfall. Deutschland könnte führend sein, wenn wir nicht 230 Milliarden Euro bis 2030 in einem Rentenpaket versenken würden.
Die Bildungsrevolution, die ich meine, sie hat nicht nur etwas mit der Hardware, sondern auch mit Einstellungen zu tun. Ich war neulich im WDR in einer Sendung zu Gast, in der Menschen etwas persönlicher vorstellt werden. Es war eine freundliche Sendung, ich durfte Motorengeräusche raten – sie wissen ja vielleicht, dass das meine Leidenschaft ist. An einer Stelle fragte mich dann der Moderator, ob ich in der Schule eigentlich ein Streber gewesen sei. Oha, habe ich gedacht – das wird gefährlich. Wer will schon ein Streber sein. Also habe ich das abgebogen. Auf dem Heimweg habe ich mich gefragt, was diese Frage aber eigentlich über uns alle aussagt. Wenn das Streben nach guten Leistungen schon in der Schule zu einem charakterlichen Makel umgemünzt wird, dann stimmt etwas nicht. Und dagegen muss man sich wehren – und davor muss man Kinder und Jugendliche schützen.
Ich beobachte auch eine zunehmende Geringschätzung der beruflichen Bildung. In einer OECD-Studie wurde neulich gesagt, wenn Kinder einer Akademikerfamilie eine Ausbildung etwa im Handwerk absolvieren würden, dann seien das „Bildungsabsteiger“. Mir hat der Handwerkspräsident Wollseifer neulich vom Sohn eines Augenarztes berichtet, der Augenoptikermeister wird. Wer das als Bildungsabstieg begreift, der hat nicht verstanden, woraus unser Land seine Stärke bezieht.
6.
Robert Bosch oder Reinhold Maier – große Veränderungen beginnen mit einer Idee. In der Wirtschaft und im Leben insgesamt. Und mit Menschen, die ihrer Idee Enthusiasmus folgen lassen.
In den USA gehen Menschen zur Existenzgründung in die Garage. In Köln haben mir neulich IT-Gründer erzählt, wie lange sie zwischen den Ämtern pilgern mussten. Während die Pioniere andernorts an Ideen schrauben, werden hierzulande Formulare ausgefüllt. In Deutschland wäre Apple-Gründer Steve Jobs schon an der Baunutzungsordnung seiner Garage gescheitert. Gründerkultur ist nicht nur die Hefe im Teig der Wirtschaft, sondern Ausdruck des Zukunftsvertrauens der Gesellschaft insgesamt!
Uns scheint die wichtigste Ressource für Zukunft knapp geworden zu sein: Denn für Tatkraft und Fortschritt sind die Bürokratisierung unseres Lebens und die Liebe zum Status quo die größte Gefahr. Ich will nicht in einem Land leben, das mehr Bedenken als Garagen hat!
Fangen wir damit an, die Existenzgründung so einfach zu machen wie einen Mietwagen zu nehmen – und zwar als gesellschaftliches Aufbruchssignal. Nicht Verhindern, Bremsen und Demotivieren, sondern Ermöglichen, Gestalten und Menschen motivieren – das ist der Anspruch der Freien Demokraten. Deutschland muss sich trauen, wieder die Republik der Chancen zu werden! Zukunft kann man nicht nur fürchten, man kann Zukunft auch gewinnen!
Das ist auch und gerade eine Frage der Mentalität: Ich habe mich als junger Mann selbständig gemacht. Sieben Jahre habe ich durchaus mit Erfolg eine Werbeagentur betrieben. Auf dem Höhepunkt der New Economy im Jahr 2000 war ich daneben mit drei Partnern gemeinsam Gründer eines Internet-Unternehmens. Der Zusammenbruch des Neuen Marktes, das Platzen der Internet-Blase, hat auch zum Scheitern unseres Unternehmens geführt. Ich habe daraus vieles gelernt. Warum berichte ich Ihnen das? Weil mir das Scheitern dieses Start-up-Unternehmens bis heute von politischen Gegnern vorgeworfen wird – bis in Parlamentsdebatten hinein. Übrigens gerne von Kollegen, die immer vom Staat gelebt oder im Staat gearbeitet haben. Mich selbst beschwert das nicht – da ist man als FDP-Vorsitzender aber anderes gewohnt. Aber wie wirkt so etwas auf einen Studenten, der das Risiko abwägt, eine Firma zu gründen? Auf einen frischgebackenen Handwerksmeister, der einen Betrieb ins Leben rufen will? Wer geschäftlich erfolgreich ist, der gerät ins Visier der Umverteilungspolitiker und erlebt Neid, wer geschäftlich scheitert, der darf sich lebenslang Häme und Spott sicher sein. Kein Wunder, dass ein Drittel der Studienabsolventen heute in den Öffentlichen Dienst strebt. Wir brauchen eine neue Chancenkultur: Risikobereitschaft braucht Anerkennung – und wer scheitert, der hat einen neuen Anlauf verdient!
Unser Wohlstand basiert auf industrieller Wertschöpfung. Aber es hat sich eine Haltung entwickelt, die eine Fremdheit gegenüber technologischem Fortschritt und Anwendungen im industriellen Maßstab kultiviert. Statt nüchterner Folgenabschätzung ist es geradezu eine intellektuelle Attitüde, irrationale Ängste zu bedienen. Ich habe die Vermutung, dass es eine gutmenschliche Protestindustrie gibt, die sogar Kapital aus Ängsten schlägt. Es darf nicht dazu kommen, dass die Stärke des organsierten Protests mehr zählt als wissenschaftliche Argumente!
Das aktuellste Beispiel ist die Förderung unkonventioneller Gasvorkommen. Das Wort Fracking ist inzwischen giftiger als die Technologie es je sein könnte. In den USA hat es damit eine Energierevolution gegeben, die sowohl die Energiepreise als auch den CO2-Ausstoß reduziert hat. Ich weiß nicht, ob das bei uns möglich wäre. Wer das aber prüfen und wissenschaftlich untersuchen will, der ist kein Brunnenvergifter, sondern der nimmt die Verantwortung wahr, dass Deutschland keine Chancen entgehen! Der Ausstieg aus der Kernenergie hat uns eines gelehrt: Es müssen nicht nur die Folgen der Einführung einer Technologie untersucht werden, sondern auch die Folgen des Verzichts auf eine Technologie!
Die größte Veränderung unseres Miteinanders in Gesellschaft und Wirtschaft ist dabei die Digitalisierung aller Lebensbereiche. Diese Zäsur bereitet vielen Unbehagen. Der Dichter Hans Magnus Enzensberger hat in einem Beitrag für die FAZ vor einiger Zeit gesagt, er empfehle das Handy in den Mülleimer zu werfen. Der Justizminister von Nordrhein-Westfalen hat öffentlich mitgeteilt, er habe sich nun mit dem Online-Banking beschäftigt. Ergebnis: Er nutze es nicht mehr. Das ist die traurigste Art mit Veränderungen umzugehen: Resignation. Aber Resignation – das ist der Egoismus der Schwachen.
Wir haben bei der Digitalisierung bisher vor allem die Risiken für das vornehmste Bürgerrecht betont – unser Recht auf Privatheit. Es droht die Gefahr der lückenlosen Ausspähung. Nachdem wir die Vorratsdatenspeicherung für die Kommunikation verhindert haben, sucht der Überwachungsstaat nun den Umweg über ein Maut-System mit Kennzeichenerfassung. Wir wollen aber weder gläserne Bürger noch gläserne Autofahrer wider Willen werden!
Die Verteidigung der Abwehrrechte der Bürger gegen den Staat war immer und wird immer Kern unserer politischen Grundüberzeugung bleiben. Wir müssen uns in dieser Frage aber weiterentwickeln. Wir müssen unsere Perspektive weiten. Von der Digitalisierung gehen nämlich zuerst großartige Chancen aus, auf die ich nicht verzichten will. Für die einfache Teilhabe am sozialen Leben. Für neues Wachstum. Für mehr Komfort im Alltag. Was für eine faszinierende Idee ist die digitale Patientenakte, damit im Notfall alle unsere Daten verfügbar sind – und im Normalfall teure Doppelbehandlungen ausgeschlossen werden. Das will ich für mich und meine Familie haben. Was es aber nicht geben darf: Versicherungen vermessen unsere DNA – und bemessen danach den Versicherungstarif. Denn das würde Menschen ihre unveräußerliche Würde nehmen.
Freie Demokraten dürfen sich nicht aus Sorge vor dem Missbrauch die Lust auf die Möglichkeiten nehmen lassen. Daher müssen wir dafür sorgen, dass jeder Einzelne die Hoheit über seine Daten behält, um diese großartigen Technologien selbstbestimmt nutzen zu können!
Das ist auch die Gestaltungsaufgabe in der Wirtschaftsordnungspolitik. Neue Geschäftsmodelle entstehen, die etablierte Branchen herausfordern. Wir haben es bei der Auseinandersetzung zwischen dem Taxigewerbe und Uber als Vorspiel auf das, was kommt, erlebt. Die Etablierten haben sich hinter Gesetzen verschanzt, unterstützt von Politikern, die beim Newcomer nur Sozialdumping vermutet haben. Auch bei uns gab es Stimmen, man möge sich doch mit den gut organisierten Taxifahrern nicht anlegen. Eine liberale Wirtschaftsordnung kann aber keinen Zaun um Branchen bauen, wenn der technische Fortschritt die Geschäftsgrundlagen verändert: Warum müssen Taxis vier Türen haben und der Fahrer besondere Ortskunde, wenn es Navigationsgeräte gibt? Generell muss diese Branche also liberalisiert werden. Und das trifft auf andere auch zu.
Liberale können und dürfen nicht für Branchen oder gar Unternehmen Partei ergreifen, um sie mit Gesetzen, Protektionismus oder Subventionen zu schützen. Aber wir wollen faire Wettbewerbsbedingungen zwischen den Etablierten und den Newcomern, zwischen den Mächtigen und den Außenseitern schaffen, damit die Kunden entscheiden können – und sich die bessere Idee durchsetzt!
Diesen Gestaltungsmut, ihn wünsche ich mir für die Politik zurück:
Die gesetzliche Rentenversicherung hat ihr 125-jähriges Bestehen gefeiert. Sie ist seit Bismarck im Prinzip unverändert, obwohl sich alles andere geändert hat. Wir sprechen immer noch über feste Renteneintrittsalter, obwohl wir alle sehr individuelle Lebensläufe haben. Die Idee ist zum Greifen nah, den Menschen Wahlfreiheit zu eröffnen. Wer länger arbeitet, hat eine höhere Rente. Und wer früher gehen will, der soll unbürokratisch etwas zur Rente dazuverdienen können. Es fehlt der Politik nicht an Erkenntnis, sondern an Mut, auf die Selbstbestimmung von uns allen zu bauen!
Im Steuerrecht passiert: nichts. Ich spreche es bewusst an, denn weil wir unsere Ziele nicht erreicht haben, ist die Problembeschreibung ja noch dringender geworden. Für diese Legislaturperiode ist das einzige Gestaltungsziel die Reduzierung der „kalten Progression“ – also der Verstaatlichung der Gehaltserhöhungen. Falls sich Spielräume ergeben sollten, vielleicht – das ist der jüngste Kompromiss. Das Handelsblatt hat kommentiert: „Es gibt Kompromisse, die sind so faul, dass sie schon beim Abschluss streng riechen.“
Ohne Freie Demokraten im Bundestag ist die Frage der Steuerpolitik vollständig von den politischen Radarschirmen verschwunden. Und weil Gerhard Schröder die Ideen von Paul Kirchhoff demagogisch zusammengeschlagen hat, gibt es keinen Mut mehr. Also fassen wir uns wieder ein Herz: Natürlich wäre ein einfaches Steuersystem ein Gewinn an Freiheit – und daher eine faszinierende Vision, an der man jeden Tag weiter arbeiten muss.
Die Politik verliert Vertrauen bei den Menschen, wenn sie sich keine Ziele mehr setzt, die über den Tag hinaus reichen. Eine nur verwaltete Republik begeistert niemanden. Wir wollen, dass Deutschland sich wieder Gestaltung zutraut!
7.
Tausende Menschen sind in den vergangenen Wochen auf die Straße gegangen, um gegen die angebliche Islamisierung des Abendlandes zu demonstrieren. In Dresden mutet das etwas ulkig an. Denn wenn einem dort eine Frau mit Kopftuch begegnet, ist es wahrscheinlich eine sorbische Großmutter beim Einkauf.
Manche Parole hat mehr mit diffusen Ängsten und harten Ressentiments zu tun als mit Realitäten. Diese Menschen sind auch nicht „das Volk“. Aber wenn die Politik Bürger als „Mischpoke“ oder „Nazis in Nadelstreifen“ beschimpft und dann versucht, den Menschen reale Alltagsbeobachtungen nicht gelungener Integration auszureden – dann treibt man die Menschen erst recht in die Arme von konzeptlosen Populisten.
Es gibt reale Integrationsprobleme, die unsere Aufmerksamkeit fordern. Mir schreiben Bürger erbost, warum sie nicht wenigstens informiert werden, wenn in ihrer Nachbarschaft Flüchtlinge in Containern untergebracht werden. Das müsste die beste Verwaltung der Welt besser können. Aber um diese realen Integrationsprobleme geht es bei diesen Demonstrationen in Wahrheit nicht. In Leipzig mischen sich die Forderung nach einem NATO-Austritt und einer Annäherung an Russland mit Vorwürfen gegen die Lügenpresse und Ressentiments gegen alle Minderheiten. Als Vertreter der ehemaligen Regierungspartei FDP kann ich bezeugen: Es gibt keinen Pakt zwischen Medien und „denen da oben“, der sich in liebedienerischer Hofberichterstattung zeigen würde.
Zum Abendland, das die zu verteidigen vorgeben, gehört für uns die Aufklärung. Dazu gehört Lessings Ringparabel von der Toleranz zwischen den Religionen. Dazu gehört die Idee des weltanschaulich neutralen Staates mit seiner liberalen Verfassung. Wer sie achtet, wer nach den Regeln spielt, sich um den Lebensunterhalt seiner Familie bemüht, für den muss in unserem Land die preußische Toleranz gelten – dass nämlich „jeder nach seiner Façon selig“ werden darf.
Wenn Ressentiments bedient werden, darf niemand schweigen. Mir schrieb ein Zahnarzt, dass er diese Vorbehalte gegen Muslime teile – ansonsten sei er aber ganz tolerant. Gegen wen richtet es sich morgen? Vielleicht Immobilienmakler, die sich ja alle bereichern. Oder Homosexuelle. Oder kinderlose Paare, die nicht dem dort vertretenen völkischen Ideal entsprechen. Wer heute Ressentiments entschuldigt, wer wegsieht oder wegschaut, der kann morgen selbst das Opfer sein! Auf die Vielfalt der Gesellschaft sind nicht Ressentiments die Antwort – sondern wechselseitiger Respekt!
Das ist der Kern der offenen Gesellschaft. Ihn werden wir den Pegida-Organisatoren nicht opfern. Und ja: Er wird auch infrage gestellt durch eine Scharia-Polizei, die in Wuppertal patrouillierte, oder durch Salafisten, die unter unseren Augen Gotteskrieger für ihren Terrorfeldzug rekrutieren wollen. Hier dürfen wir von den Muslimen in unserem Land erwarten, dass sie sich mit uns gemeinsam gegen diesen Extremismus zur Wehr setzt.
Wir sind ein Land von 80 Millionen Menschen. Mit gewachsener Verantwortung in der Welt, enormem Wohlstand und einer wohl einzigartig leistungsfähigen Verwaltung. Auch wenn es Geld kostet – es ist ein Gebot der Humanität, dass wir Menschen in existenzieller Not bei uns Asyl gewähren. Und es ist ein Skandal, dass diese Flüchtlinge aus Kriegsgebieten in Nordrhein-Westfalen misshandelt worden sind. Deutschland darf seine Mitmenschlichkeit nicht der Gleichgültigkeit opfern.
Das Asylrecht muss vereinfacht werden, damit es schnellere Entscheidungen ermöglicht. Oft ist das gar keine Frage des Rechts, sondern eine Frage der Verwaltung. Die 1.600 Stellen, die die große Koalition für eine Misstrauensbürokratie gegen Handwerk und Mittelstand wegen der Kontrolle des Mindestlohns beim Zoll neu schafft, die wären für beschleunigte Asylverfahren besser eingesetzt. Das wäre auch ein Dienst an der Humanität!
Wir werden der Realität nicht ausweichen können, dass unsere Gesellschaft Zuwanderung braucht. Um den demographischen Wandel zu stoppen, müsste jede Frau im gebärfähigen Alter sonst durchschnittlich sieben Kinder bekommen. Das schafft nur Ursula von der Leyen. Besser gemanagte Zuwanderung liegt in unserem nationalen Interesse. Die Zeit ist reif, diese Einsicht durch ein zeitgemäßes Zuwanderungsrecht anzuerkennen. Die Konzepte liegen auf dem Tisch. Deutschland braucht ein Auswahlverfahren für die qualifiziertesten Bewerber nach kanadischem Vorbild. Wer sich bei uns etwas mit Fleiß aufbauen will und unseren Sozialstaat stabilisieren hilft, dem sollten wir den roten Teppich am Flughafen ausrollen, weil nämlich alle westlichen Gesellschaften um diese Menschen konkurrieren werden! Wenn wir die letzten sind, die das begreifen, werden wir eben nicht die Besten für uns gewinnen.
8.
Die AfD hat begonnen sich mit Pegida gemein zu machen. Der Vize Alexander Gauland mischt Ressentiments gegen Minderheiten mit der Ablehnung des transatlantischen Freihandels und Verständnis für die autoritäre und homophobe Politik von Wladimir Putin – wohl weil er dessen Meinung teilt, dass im Westen ein dekadenter Liberalismus wüte. Man muss die Islamisierung des Abendlands weniger fürchten als die Gaulandisierung der Parlamente. Es ist keine Überraschung, dass Bernd Lucke in seiner Partei isoliert scheint. Professor Biedermann hat seine Schuldigkeit getan, jetzt übernehmen die Brandstifter das Ruder. Die innere Liberalität unseres Landes und seine Weltoffenheit fordern von uns geistige Wehrhaftigkeit. Die AfD ist kein Ersatz für die FDP. Die AfD ist das Gegenteil all dessen, was uns Liberalen heilig ist.
Wir teilen die Sorgen vieler Menschen wegen der neuen Spannungslage mit Russland. Deshalb ist es falsch, Gesprächskanäle zu kappen. Deshalb ist es sogar töricht, Wirtschaftskontakte an den Pranger zu stellen, die es selbst mit der Sowjetunion gab. Wir haben durch die liberale Entspannungspolitik den Kalten Krieg nicht überwunden, um jetzt wieder einen Kalten Krieg hinzunehmen.
Aber Ursache und Wirkung müssen klar getrennt werden. Wladimir Putin hat das Völkerrecht gebrochen und das russische Volk in Geiselhaft für seine autoritäre Politik genommen. Er unterstützt im Westen die Parteien der Europahasser. Die NATO betreibt keine Einkreisungspolitik, die Staaten in Osteuropa haben sich souverän für den Weg nach Westen entschieden, weil sie Wohlstand und offene Gesellschaften wollen. Mag es auch Versäumnisse des Westens gegeben haben, sie stehen in keinem Verhältnis zur verdeckten Kriegsführung aus dem Kreml.
So wie wir in unserem Land die individuellen Freiheitsrechte gegen das Machtdiktat von Bürokratie oder Wirtschaftsgiganten verteidigen, so müssen sich Freie Demokraten auf der internationalen Ebene für das Völkerrecht einsetzen. Russland hat seinen legitimen Platz im Haus Europa. Wir haben gemeinsame Interessen an Wohlstand und Stabilität.
Aber es darf keine Vasallenstaaten mehr in Europa geben – und auch nicht das Recht des Stärkeren. Wer diese Zivilisationswerte aus Bequemlichkeit relativiert, wer die Freiheit der vermeintlichen Ruhe zu opfern bereit ist, der wird am Ende beides verlieren – das ist die Lehre der Geschichte!
Viele Debatten offenbaren für mich eine Art Sinnkrise des Westens. Auch die Diskussion über den transatlantischen Freihandel. AfD und Linke sagen nein, die Regierung ringt sich zu einem „Ja, aber“ durch. Was für eine Kurzsichtigkeit angesichts der Verschiebung der Gewichte der Weltwirtschaft in den asiatischen Raum. Wie kurzsichtig, da wir Europäer heute bald nur noch fünf Prozent der Weltbevölkerung ausmachen.
Deshalb ein klares Ja zum Freihandel mit Nordamerika, weil er neue Wachstumschancen eröffnet. Ja, weil er die Möglichkeit bietet, weltweit beachtete Sozial- und Umweltstandards zu definieren – es macht sonst China. Und auch ein klares Ja, weil unsere Beziehungen zu den USA neue Impulse brauchen. Der plumpe Anti-Amerikanismus, der neuerdings chic ist, wie geschichtslos ist er. Wo würden wir in einer Krise anrufen – in Peking? In Moskau? Nein, in Paris, London und Washington! Deutschland muss wissen, wo es steht. Nicht gegen jemanden, aber für etwas. Für uns Freie Demokraten ist klar: Unser Platz ist immer an der Seite derjenigen, die sich weltweit für Freiheit, Menschenrechte, Rechtstaat, Demokratie und Marktwirtschaft einsetzen!
9.
Vor uns liegt ein spannendes, aber auch ohne Zweifel wieder herausforderndes Jahr. Liberale lieben Herausforderungen!
In Hamburg mit Katja Suding und in Bremen mit Lencke Steiner haben wir starke Persönlichkeiten. Katja hat ihre Durchsetzungsstärke in vier Jahren in der Bürgerschaft bewiesen. Lencke verkörpert als Vertreterin des modernen Mittelstands und Quereinsteigerin in die Politik, dass die FDP sich erneuert hat – und sich zugleich treu geblieben ist.
Wir haben die Frage nach dem WARUM gestellt – und für uns beantwortet. Wir haben das Vertrauen in die schöpferische Kraft des Einzelnen und unsere gemeinsame Tatkraft. Deutschland soll auch im Wandel ein weltoffenes Land auf einer starken wirtschaftlichen Basis bleiben.
Theodor Heuss und seine Mitgründer haben den besten Namen für eine Partei gefunden, die Anwalt fairer Regeln und offen für Fortschritt ist; für eine Partei, die getragen wird von der Liebe zur Freiheit: Freie Demokratische Partei.
Der Wert einer Überzeugung misst sich nicht an Umfragen, sondern an ihrer inneren Stärke. Wer heute uns unterstützt, der unterstützt nicht irgendeine Organisation, sondern der wird Teil einer Idee. Deshalb verstecken wir unsere liberale Überzeugung nicht, sondern kehren wieder zu ihrem Kern zurück, wenn wir mit neuem Stolz sagen: Wir sind Freie Demokraten!