LINDNER-Interview für die „Hessische/Niedersächsische Allgemeine Zeitung“
Berlin. Der FDP-Bundesvorsitzende CHRISTIAN LINDNER gab der „Hessischen/Niedersächsischen Allgemeinen Zeitung“ (Freitag-Ausgabe) das folgende Interview. Für Abweichungen der Druckfassung ist die Redaktion verantwortlich. Die Fragen stellte Wolfgang Blieffert:
Frage: Der Bund der Heimatlosen und Entrechteten, der BHE, bestimmte nach dem Zweiten Weltkrieg die Politik mit. Ende der 50er-Jahre flog die Partei aus dem Bundestag und verschwand von der Bildfläche, weil kein Bedarf für ihre Themen mehr bestand. Droht der FDP das gleiche Schicksal, weil der Liberalismus keine eigene Partei mehr braucht?
LINDNER: Das Gegenteil ist der Fall. Die liberale Idee, also dass zuerst die Bürger in Freiheit und Eigenverantwortung eine Chance verdient haben, bevor der Staat einspringt, braucht eine Stimme. Die FDP mag in der Vergangenheit eigenen Maßstäben nicht immer gerecht geworden sein, und es hat Mängel im Auftreten gegeben. Aber das ändert nichts an der Tatsache, dass gerade jetzt eine Partei, die konsequent für Marktwirtschaft und Rechtstaat eintritt, notwendig ist – und das ist die FDP.
Frage: Ist der Kampf um die Rechtsstaat und Datenschutz nicht schon verloren, wenn man sieht, wie ignorant Internet-Nutzer mit ihren Daten umgehen und wie gering letztlich der öffentliche Aufschrei angesichts der NSA-Schnüffelei gewesen ist?
LINDNER: Was jemand mit seinen Daten macht, ist seine Privatsache. Aber niemand darf gezwungen werden, gläserner Bürger zu sein, weil staatliche und kommerzielle Datensammler das Recht auf Privatheit aushöhlen. Deutschen Behörden ist die Online-Durchsuchung von Festplatten untersagt. US-Dienste tun dies aber.
Frage: Also ist der Staat gefordert?
LINDNER: Natürlich, denn wenn eines der wichtigsten Bürgerrechte ausgehöhlt wird, ist die Bundesregierung verpflichtet, dem Grundgesetz Geltung zu verschaffen. Es ist nicht zu akzeptieren, dass Kanzleramt und Generalbundesanwalt offenbar nichts tun, um diese empfindliche Verletzung von Freiheitsrechten zu beenden.
Frage: Als Partei, die nicht mehr im Bundestag vertreten ist, müssen sie Wege finden, sich Gehör zu verschaffen. Wollen Sie das tun mit Polemik a la „spätrömische Dekadenz“?
LINDNER: Mutige und seriöse Positionen werden gehört, da habe ich keine Sorge. Schon jetzt wird klar, dass angesichts einer großen Koalition, die als erstes den Bürgern die ihnen zustehende Senkung der Rentenversicherungsbeiträge vorenthält, und einer ökologisch-sozialistische Opposition aus Grünen und Linkspartei eine marktwirtschaftlich-bürgerliche Stimme fehlt. Die FDP ist notwendig für die Pluralität in unserer Gesellschaft. Deshalb kann ich mich nicht über einen Mangel an Interview- und Vortragsanfragen beklagen.
Frage: Haben Sie nicht ein Glaubwürdigkeitsproblem: Eben noch haben Sie mit Kanzlerin Merkel und der Union Politik gemacht, nun melden Sie scharfe Kritik gegen deren Kurs an?
LINDNER: Umgekehrt wird ein Schuh draus: Die Union hat ein Glaubwürdigkeitsproblem, weil sie sich kampflos von den bürgerlichen Prinzipien der letzten vier Jahre verabschiedet.
Frage: Nennen Sie uns bitte Beispiele.
LINDNER: Der Finanzminister erfüllt Wahlversprechen auf Pump statt Schulden zu tilgen. Die Vorratsdatenspeicherung kommt und macht jeden Handynutzer zum Verdächtigen. Oder die Rentenpolitik: Union und FDP haben Frankreichs Präsident Hollande kritisiert, weil er trotz demografischen Wandels das Renteneintrittsalter wieder gesenkt hat. Und genau das macht jetzt aber auch die Union in Deutschland mit. Das ist unverantwortlich gegenüber künftigen Generationen.
Frage: Ihre erste große Bewährungsprobe wird die Europawahl sein, für die der Euro-kritischen Alternative für Deutschland (AfD) gute Chancen eingeräumt werden. Geraten Sie da nicht in Gefahr, sich ebenfalls europaskeptischer darzustellen?
LINDNER: Nein, wir haben weder einen romantischen noch einen skeptischen Blick auf Europa, sondern einen realistischen. Deshalb wollen wir ein starkes Europa, weil wir unseren Lebensstil und Wohlstand in einer globalisierten Welt gar nicht anders bewahren können. Europa muss aber marktwirtschaftlicher, demokratischer und bürgernäher werden, um eine Zukunft zu haben. Die Rettungsschirme müssen zugeklappt werden, wenn die Reformen umgesetzt sind. Wir wollen zurück zu finanzpolitischer Eigenverantwortung. Es wäre jedoch töricht, jetzt in Europa neue Turbulenzen auszulösen, wie die AfD das will. Schon gar nicht in Zeiten, da mit Irland das erste Land den Rettungsschirm verlassen hat.
Frage: Ein Europathema wird in der neuen Koalition bereist kontrovers debattiert, die Freizügigkeit für Bulgaren und Rumänen. Wo ist das Position der FDP?
LINDNER: Wir werden auf mittlere Sicht einen massiven Mangel an Fachkräften bekommen. Deswegen sollten wir uns freuen, wenn gut qualifizierte Menschen nach Deutschland kommen. Dagegen ist es bereits geltendes Recht, dass niemand nach Deutschland kommen darf, um dauerhaft Sozialleistungen in Anspruch zu nehmen. Dieses Recht muss konsequent umgesetzt werden. Was die CSU macht, ist aber unseriös. Denn entweder wollen die nur die Stimmung an bayerischen Stammtischen aufheizen, oder ihre Führung hat keine Ahnung von der Rechtslage.