LINDNER-Interview für „Bild am Sonntag“
Berlin. Der FDP-Bundesvorsitzende CHRISTIAN LINDNER gab der „Bild am Sonntag“ (aktuelle Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellte MICHAEL BACKHAUS und MARTIN S. LAMBECK:
Frage: Herr Lindner, herzlichen Glückwunsch!
LINDNER: Danke, aber wozu?
Frage: Zur Abschaffung des Drei-Prozent-Hürde für die kommende Europawahl. Ins Europaparlament kommt die FDP also auf alle Fälle...
LINDNER: Als Demokrat begrüße ich dieses Urteil. Als FDP-Vorsitzender will ich aber über drei Prozent bei der Europawahl. Denn Europa braucht weder den Zentralismus linker Parteien noch die Flucht rechter Parteien zurück in die Romantik des Nationalstaats. Europa braucht Realismus.
Frage: Was bedeutet das konkret?
LINDNER: Als Liberale wollen wir Europa, weil Deutschland allein auf der Weltbühne ohne Einfluss wäre. Aber es ist an der Zeit für eine Inventur. Die EU-Kommission ist zu groß. Es darf kein Tabu sein, Kompetenzen auf die nationale Ebene zurückzuholen. Für Alltagsfragen wie Olivenölkännchen auf Restauranttischen, Staubsauger und Glühbirnen brauchen wir Europa nicht. In den großen Fragen wie Energieversorgung, Datenschutz oder globaler Wettbewerbsfähigkeit benötigen wir hingegen mehr Europa.
Frage: Als Partei der Außenminister seit Walter Scheel 1969 hat die FDP all das mitbeschlossen, was Sie jetzt beklagen, was den großen Europa-Verdruss bei den Bürgern auslöst und was der AfD sehr hilft. Braucht es nicht einen Neustart liberaler Europa-Politik?
LINDNER: Das vereinte Europa ist ein zivilisatorischer Fortschritt. Wer will Schlagbäume, Zölle, Währungsschwankungen und Rivalitäten zwischen Staaten zurück? Der Binnenmarkt hat Europa zu einem Raum ohne Grenzen gemacht, in dem sich Menschen, Waren und Ideen freibewegen können. Es wäre töricht, dass infrage zu stellen. Die Kommission hat sich aber zu einer Superbehörde entwickelt, die uns kleinteilig im Alltag bevormunden will und die den Mitgliedstaaten Modethemen vorschreibt. Fragen wie die Frauenquote sollten besser national entschieden werden. Und was die AfD betrifft: Da gab es bürgerliche Köpfe. Doch den Ton geben inzwischen Elemente an, die gegen Schwule und Ausländer hetzen. Das finde ich abstoßend! Unser politischer Hauptgegner sind aber die Parteien der GroKo, nicht die AfD.
Frage: Es gibt in Ihrer Partei eine Tradition der bruchlosen, unkritischen Europa-Begeisterung von Scheel über Genscher bis zu Westerwelle. Wollen Sie das fortführen?
LINDNER: Ich schätze alle drei sehr. Aber für meine Generation ist Europa nicht mehr nur ein Friedensprojekt wie zu den Zeiten unserer großen Außenminister. Ich kämpfe ich für einen neuen Realismus in der Europa-Politik. Europa muss künftig vor allem ein Freiheitsprojekt sein. Europa muss marktwirtschaftlicher, bürgernäher und demokratischer werden. Mir geht es darum, dass Europa künftig vor allem dafür steht, unsere Freiheit zu vergrößern und zu verteidigen. Und ich halte es für ganz falsch, dass Finanzminister Schäuble den Griechen ein neues Hilfspaket in Aussicht stellt, obwohl die Zusagen aus dem alten noch nicht erfüllt sind. Damit verlässt Deutschland den Stabilitätskurs. So wird unsere Solidarität überfordert und der Reformwillen in den anderen Ländern unterfordert.
Frage: Ist die FDP noch die Partei der Wirtschaft?
LINDNER: Die FDP ist nicht die Partei der Wirtschaft, sondern die Partei der Marktwirtschaft. Denn die Marktwirtschaft dient, wie es Ludwig Erhard wollte, Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Ich kämpfe für den freien Markt, nicht für die Interessen von Branchen oder Einkommensklassen. Wir sind jetzt unabhängiger. Wenn Gewerkschaften Technologiefeindlichkeit beklagen, stimmen wir zu. Wenn Großbanken bei Zinsen manipulieren, dann muss gerade die FDP protestieren. Wir haben Anerkennung für diejenigen, die es schon zu etwas gebracht haben. Aber unsere Leidenschaft gehört denen, die sich erst noch etwas mit Fleiß aufbauen wollen.
Frage: Mancher sagt, die FDP hat einen Totalschaden erlitten...
LINDNER: Nein, aber wir haben die FDP gegen die Leitplanke gesetzt. Das begann schon mit den Koalitionsverhandlungen 2009 – falsche Ressorts und falsche Prioritäten. Sigmar Gabriel hat gezeigt, wie man es besser macht. Die Union gewinnt die Wahl, die SPD die Regierungsbildung. Die FDP ist jetzt in der Werkstatt. Viele wünschen sich prinzipiell eine liberale Partei in Deutschland, aber die FDP hat massiv an Respekt und Glaubwürdigkeit verloren. Eine neue Lackierung reicht da nicht, wir müssen die Kotflügel austauschen, den Motor instand setzen. Die FDP ist heute da, wo Audi in den 70er-Jahren war: an einem Wendepunkt. Audi hat dann nicht Anzeigen geschaltet, sondern den Quattro erfunden und die Karosserie voll verzinkt.
Frage: Lasten Sie sich auch persönlich Fehler an?
LINDNER: Ich habe den Koalitionsvertrag 2009 nicht ausgehandelt, aber ich habe ihm als einer von 600 Delegierten zugestimmt. Wir sind die Partei der Eigenverantwortung, deshalb stellen wir uns auch gemeinsam der Lage der FDP. Als neuer Parteivorsitzender stehe ich aber für das Heute und nicht für das Gestern.
Frage: War Philipp Rösler der falsche Parteivorsitzende und Rainer Brüderle der falsche Spitzenkandidat?
LINDNER: Wir rechnen nicht persönlich ab. Das Ergebnis der Bundestagswahl spricht für sich. Die Konsequenz war der Neuanfang.
Frage: Ist die Talsohle durchschritten?
LINDNER: Ich bin Realist. In den 44 Monaten bis zur nächsten Bundestagswahl wird es noch so manchen Rückschlag geben. Wir müssen diese rund 1300 Tage nutzen, um aus der FDP eine bessere Partei zu machen, als sie vorher war.
Frage: Sie haben eine Rennfahrer-Lizenz. Fahren Sie für die FDP gerade ein Rennen um Leben und Tod?
LINDNER: Klingt ganz schön dramatisch. Aber natürlich geht es für die FDP in diesen vier Jahren darum, ein politischer Faktor zu bleiben. Das ist kein 24-Stunden-Rennen, sondern ein 48-Monate-Rennen. Entscheidend ist der Zieldurchlauf im September 2017.