09.10.2015FDPAsylpolitik

LINDNER-Interview: Die Bundesregierung hat keinen Plan

Berlin. Der FDP-Bundesvorsitzende CHRISTIAN LINDNER gab der „Passauer Neuen Presse“ (Freitag-Ausgabe) das folgende Interview. Die Fragen stellte ALEXANDER KAIN:

Frage: Agiert die Politik in der Flüchtlingsfrage? Oder reagiert sie?

LINDNER: Die Bundesregierung hat keinen Plan. Von der Bundeskanzlerin erwarte ich mehr als Appelle an Mitmenschlichkeit. Die Frage muss sein, was ein Krisenmanager wie Helmut Schmidt getan hätte. Stattdessen werden wir seit Monaten Zeugen eines Staatsversagens, aus dem eine enorme gesellschafts- und sozialpolitische Belastung erwachsen kann. Zuwanderung ist eine Chance für eine alternde Gesellschaft. Aber sie darf nicht völlig ungeordnet und chaotisch ablaufen. Wir sind solidarisch, aber wir können nur so lange und so weit Hilfe leisten, wie unsere Kräfte es gestatten. Die Fehlentscheidungen der Bundeskanzlerin – Grenzen auf, Grenzen zu – haben uns in Europa isoliert und erschweren eine Einigung. Ich bin in größter Sorge, dass in Deutschland die Bereitschaft zu humanitärer Hilfe wegen der Orientierungslosigkeit der Politik in Ärger umschlagen könnte.

Frage: Staatsversagen – das ist ein schwerer Vorwurf.

LINDNER: Fakt ist: Die Flüchtlingskrise ist außer Kontrolle geraten, weil sie erst unterschätzt und dann schlecht gemanagt wurde. Die Bundespolizei hat bereits zu Anfang dieses Jahres gewarnt, dass eine Million Menschen nach Deutschland kommen könnten. Das hat der Bundesinnenminister ignoriert. Und seit der Zuspitzung im Sommer bekommt die Regierung die Lage nicht in den Griff, sondern in Berlin und München hat man sich in die parlamentarische Sommerpause verabschiedet. Wir brauchen umso dringender jetzt Initiativen für ein einheitliches Asylrecht in Europa. Mit unseren finanziellen Möglichkeiten können auch die Auffanglager in der Türkei, im Libanon und Jordanien verbessert werden, um den Migrationsdruck zu reduzieren. Für die Staaten des Westbalkan sollte zudem die Visa-Pflicht wieder eingeführt werden, da die Anerkennungsquote auf Asyl sowieso bei weniger als 0,5 Prozent liegt. Menschen aus diesen Ländern kommen als Touristen nach Deutschland, aber zwei Meter hinter der Grenze haben sie es sich anders überlegt und beantragen Asyl.

Frage: Erschreckt Sie die große Zahl an Menschen, die kommen?

LINDNER: Anders als die CSU bin ich grundsätzlich offen für Zuwanderung. Wir brauchen aus demografischen Gründen bis zur Mitte dieses Jahrhunderts Zuwanderung, und zwar in einem enormen Umfang. Wer soll denn Markus Söder mal pflegen, wenn er alt, grau und pflegebedürftig ist? Das wird ohne geordnete Zuwanderung nicht möglich sein. Deshalb brauchen wir sofort und nicht erst 2017 oder später ein neues Einwanderungsgesetz, das eine geordnete, qualifizierte Zuwanderung ermöglicht statt dieser chaotischen, ungeordneten und über den Asylweg fehlgeleiteten Zuwanderung, wie wir sie derzeit erleben.

Frage: Ist es richtig, über Leitkultur zu sprechen?

LINDNER: Was ist das? Kruzifix, Weißbier oder Opernhaus? Nein, der Kitt unserer Gesellschaft sind die liberalen Werte des Grundgesetzes. Und auf die gibt es keinen Rabatt – weder für Deutsche noch für Flüchtlinge. Wer zu uns kommt, hat unsere Verfassungsordnung anzuerkennen. Ich halte es etwa für einen Skandal, dass es in Berlin Stadtteile gibt, wo Staatsanwälte in laufende Fernsehkameras erklärt haben, sie würden dort keine Straftaten von libanesischen Banden verfolgen, weil sie und ihre Familien Angst haben, Opfer von Rachefeldzügen zu werden. Das kann sich der Rechtsstaat nicht bieten lassen. Der Staat muss sein Recht durchsetzen. An jeder Stelle, in jeder Ecke unseres Landes müssen die Bürger sich darauf verlassen können. Unser Rechtssystem achtet die Freiheit des Einzelnen. Aber der Einzelne muss sich auch auf das Recht verlassen können. Mir ist wichtig, dass Deutschland seine innere Liberalität behält. Das umfasst Solidarität mit Bedürftigen genauso wie das offensive Eintreten für unsere Verfassungsordnung. Die junge Muslima darf selbst entscheiden, ob sie Kopftuch trägt oder nicht – das ist ihre religiöse Freiheit. Aber sie hat keine Wahl, ob sie am schulischen Schwimmunterricht teilnimmt oder nicht. Das ist Teil der Schulpflicht – und die muss durchgesetzt werden.

Frage: Stellt sich dennoch die Frage, ob wir am Ende den Kulturen, die zu uns kommen, entgegenkommen.

LINDNER: Im Privaten herrscht Toleranz. Ich lasse mir ja auch meine persönliche Lebensführung nicht von den grünen Kostverächtern und Tugendwächtern diktieren. Das erfordert auch, dass ich Respekt vor anderen habe und deren Lebensweise hinnehme, solange sie mich nicht einschränkt. Aber die Scharia kann nicht unser öffentliches Leben regeln. Wo kämen wir denn hin, wenn männliche Migranten sich in einem öffentlichen Krankenhaus nicht von einer Ärztin behandeln lassen wollen, weil das bei ihnen zu Hause unüblich ist? Ich habe null Verständnis dafür, wenn beispielsweise bei einem „Ehrenmord“ der kulturelle Hintergrund als Entlastung angeführt wird. Unser Staat ist weltanschaulich neutral. Er ist auch kein christlicher Club – das muss man ja der CSU immer wieder sagen. Aber dieses weltanschaulich neutrale Recht muss umso mehr an wirklich jeder Stelle durchgesetzt werden, damit es der Befriedung der Gesellschaft und der unterschiedlichen Gruppen dient.

Frage: Ist aus Ihren Worten die Befürchtung zu hören, dass uns die Integration nicht gelingt?

LINDNER: Ich habe die große Sorge, dass aus der aktuellen Flüchtlingskrise schon in wenigen Monaten eine Integrationskrise werden wird. Erstens, weil Deutschland sich über seine eigene Identität nicht im Klaren ist. Wir haben doch gar kein positives Bild mehr vom Staat des Grundgesetzes. Aber man kann nur integrieren, wenn man weiß, wo hinein man integriert. Und zweitens bin ich pessimistisch, weil Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel und Arbeitsministerin Andrea Nahles in erschreckender Weise untätig sind. Jetzt müssten die wirtschaftlichen Voraussetzungen geschaffen werden, dass jene, die zu uns kommen, auch eine Chance auf Integration im Arbeitsmarkt haben. Arbeit ist der beste Integrationsmotor. Von Frau Nahles ist aber nur überliefert, dass sie mitteilt, dass die Arbeitslosenzahlen steigen werden. Und Herr Gabriel ergänzt, dass man nichts am Mindestlohn tun wird – der bleibt so hoch und unflexibel, wie er ist. Jemand, der aus Syrien zu uns kommt, ungelernt ist und nicht Deutsch spricht, der wird kaum für 8,50 Euro in der Stunde plus Sozialabgaben obendrauf einen regulären Job bei uns finden. Die SPD muss erkennen: Es wird nur dann einen Arbeitgeber geben, der einem Flüchtling eine Chance gibt, wenn er einen der geringeren Produktivität angemessenen Lohn bezahlen darf. Ansonsten wird es eine Ausnahme bleiben, eine Geste der Mitmenschlichkeit, auf die man sich im Umfang von vielen Zehn- und Hunderttausend lieber nicht verlassen sollte.

Frage: Was passiert, wenn wir die Integration nicht hinkriegen?

LINDNER: Dann werden wir bereits im nächsten Jahr in vielen deutschen Städten Situationen haben, wie man sie aus Rom und anderen Städten kennt: eine große Zahl an Obdachlosen, insbesondere viele junge Männer, die die Sicherheit in unseren Städten sehr beeinträchtigen.

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