13.02.2014FDPAußenpolitik

GENSCHER-Gastbeitrag für „Handelsblatt“

Berlin. Der FDP-Ehrenvorsitzende HANS-DIETRICH GENSCHER schrieb für das „Handelsblatt“ (Donnerstag-Ausgabe) den folgenden Gastbeitrag:

Das 2014 wird ein Schicksalsjahr für Europa. Wird der europäische Weg fortgesetzt, oder werden die Lehren der Geschichte in den Wind geschlagen?

100 Jahre liegt der Beginn des Ersten Weltkrieges zurück, 75 Jahre der des noch schrecklicheren Zweiten Weltkrieges. 25 Jahre zurück liegt der Fall der Mauer, das Ende der Teilung Deutschlands und Europas. Fehlt nicht ein Gedenktag, nämlich die Erinnerung an die Gründung der Bundesrepublik Deutschland vor 65 Jahren?

Aus der Schande, aus den Gräbern und aus den Trümmern des Dritten Reiches konnte im Westen Deutschlands ein gänzlich neuer Anfang gemacht werden. Er stand unter dem unabdingbaren Gebot der Verfassung „Die Würde des Menschen ist unantastbar“, das heißt jedes Menschen und nicht nur des deutschen. In seiner Außenpolitik wird der neue Staat verpflichtet auf Friedenssicherung, auf Mitwirkung bei der Einigung Europas und auf die Wiederherstellung der Einheit Deutschlands.

Es war die große Leistung der Frauen und Männern der ersten Stunde, dass sie den jungen Staat in die Gemeinschaft der westlichen Demokratien führten. Das heißt aber auch auf den Weg zur Einigung unseres Kontinents und auf den deutschen Beitrag zur Sicherung der europäischen Demokratien durch unsere Bundeswehr in der Zeit der militärischen Bedrohung im Kalten Krieg.

Mit der deutschen Ostvertragspolitik gegenüber der Sowjetunion, aber auch gegenüber Polen, der Tschechoslowakei und den anderen Ländern des Warschauer Pakts schuf die deutsche Außenpolitik ein Klima des Vertrauens, in dem die größte und erfolgreichste Menschenrechtsinitiative der Geschichte, die KSZE, möglich wurde. Nicht mit militärischen Mitteln, wohl aber auf militärisch gesicherter Grundlage, gelang der Brückenschlag zum Osten mit systemverändernder Wirkung im kommunistischen Machtbereich.

Das Ergebnis war die Vereinigung Deutschlands und die Mitgliedschaft der mittel- und südosteuropäischen Staaten in der EU und im westlichen Bündnis. Vor uns steht die Herausforderung einer zukunftsweisenden Gestaltung des Verhältnisses zwischen der Europäischen Union und Russland – jenem Lande also, das in mancher westlichen Rede, mehr als Westasien denn als Osteuropa erscheint, das es aber durch seine Geschichte und seine Kultur ist.

Heute muss Europa die Frage nach seiner Rolle in einer neuen Weltordnung und nach seiner dauerhaften inneren Gestaltung beantworten. Die Fortentwicklung der EG zur Europäischen Union war ein gewaltiger Schritt nach vorn. Die dauerhafte zukünftige Gestaltung Europas ist damit noch nicht beantwortet.

Der Eintritt in die Währungsunion war die unverzichtbare Folge des Eintritts in den gemeinsamen europäischen Binnenmarkt – beide zusammen haben Europa eine einzigartige ökonomische Stellung in der Welt geschaffen als einziger länderübergreifender Binnenmarkt mit 500 Millionen Verbrauchern. Zu den großen Leistungen in der Folge gehört die Aufnahme unserer östlichen Nachbarn nach jahrzehntelanger sozialistischer Dominanz in die EU. Die EU wurde damit dem Aufruf der europäischen Freiheitsrevolution von 1989 gerecht. Sie war auch die Entscheidung für die Einheit Europas. Sie hat die Völker Europas in ihren Hoffnungen und Wünschen so eng zusammengeführt, wie niemals zuvor in ihrer Geschichte. Wir Deutschen können feststellen, dass diesmal, als es um Freiheit und Menschrecht in Europa ging, die Deutschen auf der richtigen Seite waren.

Heute muss Europa seine Institutionen befähigen, dem Gebot zur Einheit des ganzen Europas und der Herausforderung der Globalisierung gerecht zu werden. Wer in dieser Lage unser Europa auf neonationalistische Irrwege verführen will, wer anstelle des Weiterbaus des Hauses Europa und anstelle von mehr demokratischer Legitimation den Rückbau, das heißt den Abriss des Hauses Europa, offen oder versteckt fordert, führt Europa weg von dem in der Präambel des Grundgesetzes vorgeschriebenen Weg.

Europa steht an einem Scheideweg. Folgt es der neonationalistischen Verführung oder baut es weiter am Haus Europa als Haus des Friedens, der Stabilität und der solidarischen Zusammenarbeit?

Europa, das aus seiner Geschichte gelernt hat, ist mit seiner Anerkennung der Gleichberechtigung und der Würde der Völker, unabhängig von ihrer Größe, zu einer Zukunftswerkstatt für eine neue Weltordnung geworden. Einer Weltordnung, die sich kooperativ versteht. Ihre Träger werden große Staaten sein und regionale Zusammenschlüsse, wie der der Europäischen Union.

Zu den Herausforderungen unserer Zeit gehört aber auch, dass sich die so nahen Verwandten am Westufer und am Ostufer des Atlantiks wieder bewusst werden, dass sie gemeinsam zum Bau einer von Vorherrschaftsstreben freien Weltordnung finden müssen. Der Atlantik darf gerade jetzt nicht breiter werden, und die Demokraten an seinem West- und Ostufer müssen sich entschlossen der Auseinandersetzung mit dem Neonationalismus stellen.

Wir Deutschen dürfen niemals vergessen, was uns der französische Dichter und Diplomat Paul Claudel unmittelbar nach Ende des Zweiten Weltkrieges zurief: „Ihr Deutschen sollt Europa nicht teilen und ihr sollt es nicht beherrschen wollen, sondern ihr Deutschen im Herzen Europas lebend, sollt den Völkern Europas begreiflich machen, dass wir nur gemeinsam eine Zukunft haben.“

Diese Zukunft verspielt, wer den europäischen Weg verlässt. Um nicht mehr und um nicht weniger geht es für Europa im Schicksalsjahr 2014. Das ist und das bleibt die Verantwortung des europäischen Deutschlands.

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