FDPAsyl und Einwanderung

Fluchtbewegungen in geordnete Bahnen lenken

Alexander Graf LambsdorffAlexander Graf Lambsdorff fordert neue Strategien in der europäischen Flüchtlingspolitik
03.09.2015

Die Flüchtlingskrise stellt eine enorme Herausforderung für Europa dar. Alexander Graf Lambsdorff macht klar, dass sie auch gemeistert werden muss: "Es geht auch um das Selbstbild Europas", betonte der Vizepräsident des EU-Parlaments im Interview mit der "Welt". "Schaffen wir es, dass statt nationaler Egoismen die gemeinsamen Werte im Vordergrund stehen?" Hierfür haben die Freien Demokraten Vorschläge. Die zentralen Aufgaben seien es, Leben zu retten, eine menschenwürdige Aufnahme zu organisieren, eine faire Lastenverteilung zu schaffen, Chancen und Integration zu ermöglichen – und Fluchtursachen an der Wurzel zu bekämpfen.

Um "das Chaos der Fluchtbewegungen durch eine geordnete Zuwanderung" abzulösen, brauche es unter anderem die Wiedereinführung der Visumspflicht für die Westbalkan-Staaten, erklärte Lambsdorff. "Die Migranten aus diesen Ländern haben keinerlei realistische Chance, hier bleiben zu dürfen. Aber sie belasten die Aufnahmelager und die Verfahren. Die wirklich Schutzbedürftigen aus Bürgerkriegsländern wie Syrien leiden dann darunter." Gleichzeitig sollten die Bundesagentur für Arbeit und das Bundesamt für Migration Mitarbeiter entsenden, um qualifizierte Fachkräfte vor Ort anzuwerben. "Diese Leute würden dann nicht in Aufnahmelager einwandern, sondern in den Arbeitsmarkt", hob er hervor.

Europa muss sich einmischen

Auch die Lage in Syrien und dem Irak müsste stabilisiert werden. "Europa kann nicht mehr nur über den großen Teich schielen und hoffen, dass Amerika es schon richten wird", stellte Lambsdorff klar. Die Bekämpfung der IS-Miliz müsse auch militärisch erfolgen. "Die FDP hat die Waffenlieferungen an die Peschmerga kritisiert, weil dieses Konzept schon in Afghanistan Anfang der 80er Jahre gescheitert ist: Die Waffen gelangen irgendwann in falsche Hände", erläuterte Lambsdorff. Besser wäre eine Beteiligung an den Luftangriffen, "die immerhin sechzig Alliierte unter Federführung der Amerikaner fliegen".

Lesen Sie hier das gesamte Interview.

Herr Lambsdorff, zuletzt mal wieder die Präambel des EU-Vertrags gelesen?

Hermann Höcherl hat einmal gesagt: Ich laufe nicht immer mit dem Grundgesetz unterm Arm herum. So geht es mir mit dem EU-Vertrag. Also: Nein.

Darin ist von einem Bekenntnis zum humanistischen Erbe Europas zu lesen, aus dem sich die unveräußerlichen Rechte des Menschen als universeller Wert entwickelt haben. Wenn man auf die Flüchtlingskrise blickt, muss man sagen: Papier ist geduldig.

Wenn wir den Bezug zu diesen universellen Werten verlieren, haben wir nicht mehr das Europa, das wir wollen. Von daher sollten einige Mitgliedstaaten in der Tat wieder einmal in die Präambel hineinschauen.

Es gibt auch geltendes Recht für ein geordnetes Asylverfahren, und es gibt das Prinzip der Solidarität aller Mitglieder. Bei der Verteilung von Flüchtlingen aber stehlen sich viele Staaten aus der Verantwortung. Die EU scheint zunehmend geprägt von einem neuen Geist des nationalen Egoismus.

Das stimmt. Wir sehen, dass wir mit der EU der 28 in einer neuen Zeit leben. Der existenzielle Druck aus dem Kalten Krieg ist weg, jetzt muss Europa auch ohne äußeren Feind zusammen halten. Dazu muss es neu begründet werden. Es wäre Aufgabe der deutschen Europapolitik, hierzu Konzepte zu entwickeln, aber aus dem Auswärtigen Amt oder dem Kanzleramt hören wir herzlich wenig dazu.

Und auch Deutschland ist ja keineswegs frei von nationalem Egoismus. Die Bundeskanzlerin und der Innenminister haben sich über Jahre geweigert, die Hilferufe aus Italien und Griechenland zur Kenntnis zu nehmen. Lampedusa, Malta, Lesbos, Kos, all diese Tragödien sind ja nicht überraschend über uns gekommen. Die Südeuropäer haben oft darauf hingewiesen, dass Dublin nicht praxistauglich ist. Auch die FDP vertritt diese Position seit Langem. Deutschland aber hat Rom und Athen auf ausdrücklichen Wunsch der CDU immer und immer wieder die kalte Schulter gezeigt. Jetzt, bei der Verteilung der Flüchtlinge, ist der Egoismus anderswo ausgeprägter als bei uns. Aber das ändert nichts daran, dass diese Bundesregierung in den vergangenen Jahren eklatant versagt hat. Diese Krise war absehbar.

Wie lange geben Sie dem Schengen-Raum noch mit seinen offenen Grenzen?

Dieser Raum der Freiheit ist einer der größten Erfolge Europas, er muss uns noch lange erhalten bleiben. Dafür müssen wir allerdings an den Außengrenzen dafür sorgen, dass das Chaos der Fluchtbewegungen durch eine geordnete Zuwanderung abgelöst wird. Deshalb sind die Freien Demokraten für die Wiedereinführung der Visumspflicht für die Staaten des Westbalkan. Die Migranten aus diesen Ländern haben keinerlei realistische Chance, hier bleiben zu dürfen. Aber sie belasten die Aufnahmelager und die Verfahren. Die wirklich Schutzbedürftigen aus Bürgerkriegsländern wie Syrien leiden dann darunter. Gleichzeitig zur Visapflicht sollten die Bundesagentur für Arbeit und das Bundesamt für Migration Mitarbeiter auf den Balkan entsenden, um qualifizierte Zuwanderer anzuwerben, die unsere Betriebe brauchen. Diese Leute würden dann nicht in Aufnahmelager einwandern, sondern in den Arbeitsmarkt.

Mehr Realismus gegenüber dem Westbalkan

Ungarn versucht, die Außengrenze mit einem Grenzzaun zu schützen. Sinnvoll?

Ich will die Ungarn hier nicht verurteilen, sie haben derzeit dreimal mehr Flüchtlinge pro Kopf zu bewältigen als wir in Deutschland. Statt mit Schaum vorm Mund auf Budapest einzuschlagen wäre es hilfreicher, endlich eine realistische Balkanpolitik zu entwerfen. Ich verstehe nicht, wieso die Bundeskanzlerin gerade erst wieder in Serbien den EU-Beitritt als in naher Zukunft realistisch erreichbares Ziel in Aussicht gestellt hat – während gleichzeitig die Bürger zu Tausenden dieses Land verlassen, um bei uns eine bessere wirtschaftliche Zukunft zu suchen. Das gleiche gilt für Montenegro, Kosovo, Albanien und Bosnien. Für diese Länder braucht es eine Politik, die nicht mit Illusionen arbeitet, sondern mit Realismus.

Weitere Ursachen der Migration liegen in den zerfallenden Staaten Syrien, Libyen oder Irak. Wer in Europa kümmert sich eigentlich darum?

Die Lage in Syrien ist objektiv nicht unter Kontrolle zu kriegen, solange die Völkergemeinschaft aufgrund des russischen Vetos im UN-Sicherheitsrat nichts tun kann. Die Menschen werden bis auf Weiteres von dort aus zu uns kommen, um unseren Schutz in Anspruch nehmen. Sobald es eine Chance gibt, muss sie genutzt werden, um der geschundenen Bevölkerung endlich Erleichterung zu verschaffen.

Australien hat der EU vorgeworfen, sich zu wenig um Syrien und Irak zu kümmern. Außenministerin Julie Bishop verlangt militärisches Engagement Europas, um den Islamischen Staat zu bekämpfen.

Das zeigt, was die Welt von Europa erwartet. Frau Bishop blickt auf Europa als einen Kontinent, der wie ein Kaninchen vor der Schlange vor dieser extremistisch-totalitären Herausforderung hockt und kaum in der Lage ist, strategische Antworten zu geben – und schon gar keine militärischen. Europa kann aber nicht mehr nur über den großen Teich schielen und hoffen, dass Amerika es schon richten wird.

Ich glaube auch, dass die Bekämpfung des IS auch militärisch erfolgen muss. Die FDP hat die Waffenlieferungen an die Peschmerga kritisiert, weil dieses Konzept schon in Afghanistan Anfang der 80er Jahre gescheitert ist: Die Waffen gelangen irgendwann in falsche Hände. Besser wäre eine Beteiligung an den Luftangriffen, die immerhin sechzig Alliierte unter Federführung der Amerikaner fliegen.

Entwicklung in Kooperation mit der Zivilgesellschaft fördern

Eine weitere Quelle der Zuwanderung liegt in Afrika. Warum eigentlich? Wir fördern doch die Region seit Jahrzehnten mit Entwicklungshilfe.

Ich glaube, der entwicklungspolitische Ansatz der letzten Jahre muss überarbeitet werden. Es reicht nicht, in erster Linie mit Staatsregierungen zusammen zu arbeiten und auf ihre „ownership“ für Entwicklungsprozesse zu setzen. Die Eliten vieler Länder, die von uns Entwicklungshilfe empfangen, sind korrupt. Das Geld versickert viel zu oft in dunklen Kanälen, das ist genau die Art der „ownership“, die die Entwicklungshilfe nicht fördern sollte. Wichtiger wäre es, auf die zwischengesellschaftliche Ebene abzustellen. Soziale, politische und wirtschaftliche Projekte mit Partnern aus der Zivilgesellschaft bringen mehr als beispielsweise die sogenannte Budgethilfe, bei der wir den Regierungen das Geld quasi als Blankoscheck ausstellen. Diese Mittel kommen nie bei den wirklich Bedürftigen an und dann suchen sie ihr Glück in Europa.

Was kann die denn EU praktisch tun?

Ganz wichtig ist, dass wir den Schleppern und Schleusern nicht die Kommunikationshoheit überlassen. Sie verbreiten gezielt die Lüge, der Weg nach Europa sei leicht und am Ziel würden Milch und Honig fließen. Dagegen müssen wir Aufklärung vor Ort setzen, wie das die EU gerade in Niger versucht. Dort wurde eine zentrale Informationsstelle eingerichtet. Das ist sicher nicht die Lösung aller Probleme, aber es ist ein richtiger Ansatz.

Die EU will ihre Mittelmeermission ausweiten, die bislang mit Kriegsschiffen Flüchtlinge rettet. Nun sollen die Schlepper auch militärisch bekämpft werden. Kann das gelingen?

Der Einsatz der Marine ist kein Allheilmittel, denn das gibt es nicht. Aber wenn es richtig gemacht wird, kann es ein Beitrag zum besseren Umgang mit der Krise sein. Am Ende des Tages wird es nicht anders gehen, als Libyen zu stabilisieren. Da muss das europäische Engagement viel stärker werden. Da stehen Frankreich und Italien besonders in der Verantwortung, aber auch Deutschland muss helfen, Frieden zu schaffen.

Scheitert der Euro, scheitert Europa, hieß es in der Griechenlandkrise. Ist es an der Zeit, Euro durch Migration zu ersetzen?

Nein. Der Umgang mit der Flüchtlingskrise ist eine enorme Herausforderung, das sehen wir alle. Die Ehrlichkeit gebietet, zu sagen, dass es weder schnelle noch einfache Lösungen geben wird. Aber wir müssen das schaffen, denn es geht auch um das Selbstbild Europas. Mit Blick auf die Präambel des EU-Vertrags stellt sich die Frage: Schaffen wir es, dass statt nationaler Egoismen die gemeinsamen Werte im Vordergrund stehen? Anders gesagt: Retten wir Leben? Organisieren wir menschenwürdige Aufnahme? Schaffen wir eine faire Lastenverteilung? Gibt es Chancen für die Menschen, die bei uns bleiben werden? Und schaffen wir eine europäische Politik, die erfolgreich Fluchtursachen bekämpft? Das sind die zentralen Herausforderungen, denen wir uns stellen müssen und die unseren ganzen Einsatz verlangen.

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